Löschner, Backhaus, Pressekodex — über die Wirksamkeit von Anonymisierungen

Stellen wir uns mal diese Zeitungsmeldung vor:

Bruder von Löschner wegen illegaler Downloads verurteilt 

(Greifswald) Am Montag wurde der in Greifswald lebende Theaterbeschäftigte Sascha L. vor einem Gericht unserer Wahl wegen zahlreicher Verstöße gegen das Urheberrecht verurteilt. Dem 44-jährigen Internetkriminellen droht nun die Zahlung einer Geldstrafe in fünfstelliger Höhe.

Sascha Löschner Theater Vorpommern Portrait

Dabei hatte Sascha L., der gemeinsam mit seinem Bruder, dem Intendanten Dirk Löschner, zur Spielzeit 2012/13 an das Theater Vorpommern kam — der aber überhaupt nicht in Greifswald wohnt — noch Glück im Unglück, denn gegen ihn wurde auch unter anderem wegen gewerblicher Piraterie ermittelt. Sascha L. wurde vorgeworfen, in der vergangenen Spielzeit mehr als 800 Fernsehserien illegal heruntergeladen haben, eine aktive Verbreitung des urheberrechtlich geschützten Materials konnte ihm bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht nachgewiesen werden.

“SOWEIT EINE ANONYMISIERUNG GEBOTEN IST, MUSS SIE WIRKSAM SEIN”

Dr. Sascha Löschner ist natürlich Chefdramaturg am Theater Vorpommern und kein Internetkrimineller – und wenn, dann hoffentlich allerhöchstens wegen der Verbreitung illegal digitalisierter arte-Dokus. Trotzdem sollte dieses ersponnene und auf die Greifswalder Verhältnisse heruntergebrochene Szenario anschaulich machen, wie sinnlos Löschners Teilanonymisierung wäre, wenn sein Bruder Dirk im gleichen Kontext mit Klarnamen, Funktion und familiärer Beziehung erwähnt wird.

Im Pressekodex — einer manifest gewordenen Sammlung publizistischer Grundsätze — ist das Verhältnis zwischen journalistischen Medien und der Privatsphäre jener Menschen, über die berichtet wird, wie folgt konzipiert:

„Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ (Pressekodex, Ziffer 8).

Diese Handlungsanleitung ist in der Theorie noch relativ einfach nachvollziehbar, doch birgt ihre praktische Umsetzung mitunter erhebliche Stolperpotenziale — beispielsweise dann, wenn über jemanden berichtet wird, (weil) der mit einer öffentlichen Person verwandt ist.

„BRUDER VON BACKHAUS WEGEN ABRECHNUNGSBETRUGS VERURTEILT“

So fiktiv das Löschner-Beispiel auch sein mag, fand sich vor zwei Wochen doch seine Entsprechung im Mantelteil der Ostsee-Zeitung — und das gewiss nicht zum ersten Mal. Betroffen war Jan B., der Bruder des Landwirtschaftsministers Till Backhaus.

Seit dem Sommer begleitete die Ostsee-Zeitung genussvoll jede Eskapade des wohl schrulligsten Ministers der Landesregierung und entwickelte beim Thema Backhaus eine Art Bulimie-Journalismus, dessen unstillbarer Sensationshunger sich zu Glanzzeiten in täglich neuen Artikeln über ihn erbrach. Diese reichten vom handfesten Streit mit einem Autofahrer während einer Fahrradtour bis zum Rosenkrieg mit seiner früheren Partnerin um einen Traktor. Nun war der Bruder des Landwirtschaftsministers an der Reihe — ein Orthopäde, der kürzlich wegen gewerbsmäßigen Abrechnungsbetrugs in 1020 Fällen zu einer Geldstrafe von 105.000 Euro sowie zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde.

Die Verlockung, eine neue Geschichte aus Backhausen erzählen zu können, war bei der Ostsee-Zeitung leider größer als die Demut vor der achten Ziffer. Anders entschied man sich offenbar beim NDR, wo das Urteil gegen Jan B. nicht als aufmerksamkeitsheischende Schlagzeile mit Promi-Bonus in die Nachrichten kam. Stattdessen konzentrierte man sich dort auf den Minister, der nun aufgrund der Traktor-Affäre tatsächlich wegen Unterschlagung, Prozessbetrugs und Verstoßes gegen das Ministergesetz in Bedrängnis kommen könnte.

  • Backhaus: Neue Runde im Traktorstreit (NDR, 14.11.2013)

(Bilder: Theater Vorpommern, Ostsee-Zeitung)

2 Gedanken zu „Löschner, Backhaus, Pressekodex — über die Wirksamkeit von Anonymisierungen

  1. Sehr schön, danke: Die OZ hat diesen Eintrag verdient.

    Als ich in Greifswald zum Ende eines Podiumsgespräches sagte, ich beobachte den Niedergang einer Regionalzeitung, lachte das Publikum. Wer dabei war und den Eintrag liest, weiß, was ich gemeint hatte. Ihm müsste das Lachen, wäre das möglich, nachträglich im Halse stecken bleiben.

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