OB-Wahl 2015: Wahl ohne Beteiligung

Ein Kommentar von Dominik Wachsmann zur Bürgermeisterwahl in der wahlkreisfreien Hansestadt Greifswald.

Das Wahlergebnis 2015 ist — wie bereits 2008 — ein Schlag ins (falsche) Gesicht, nämlich in das der Menschen, die Greifswald als ihr Zuhause betrachten und sich Veränderungen wünschen: Veränderungen in der Wohnungssituation, der Infrastruktur, dem Stadtbild, in den Bereichen Kultur und Bildung, auf dem lokalen Arbeitsmarkt etc.; mehr als genug Bereiche also, die jeden Greifswalder in irgendeiner Form tangieren.

SIE sind die 100 %

Sollte man denken. Die Summe der Menschen, die immerhin den Urnengang antraten und sich nicht für eine Weiterführung der CDU-Administrative begeistern, lässt sich auf genau 8651 beziffern. Immer noch mehr als bei den letzten StuPa-Wahlen — was in Ordnung wäre, würde in der Stadtverwaltung eine ähnliche personelle Fluktuation herrschen.

wahlplakate greifswald stefan fassbinder

(beschmierter Wahlaufsteller von Stefan Fassbinder, Foto: Fleischervorstadt-Blog)

In Greifswald leben 46607 Wahlberechtigte. In die Dunkelziffer der Gesamtbevölkerung diffundieren über 12.000 Studenten, von denen nur wenige einen Teil der wahlberechtigten Bevölkerung ausmachen. Das ist schade, denn gerade von dieser Klientel sollte man ein höheres Demokratiebewusstsein erwarten können — ein Großteil der Studierenden hat schließlich Abitur im richtigen Bundesland gemacht.

Bürgerbeteiligung: Mangelhaft

Der Kandidat Stefan Fassbinder wirbt offen mit einer stärkeren Einbindung der Greifswalder Bürger in die kommunale Gestaltung. Die Bürgerbeteiligung wollen sicher viele in Anspruch nehmen, jedoch offenbar nur wenige selbst leisten: Bei 37,3 Prozent Wahlbeteiligung durch die Bürger sind so schöne christlich-soziale Wahlergebnisse wie 49,7 Prozent (Hochheim) und 44,2 Prozent (Fassbinder) ein politischer Witz, gemessen an der Gesamtheit der Wahlberechtigten. Die Pointe „6,1 Prozent“ (Wieland) macht das leider nicht lustiger.

modifiziertes wahlplakat greifswald

(beklebter Wahlaufsteller von Jörg Hochheim, Foto: Fleischervorstadt-Blog)

Drücken wir das Ergebnis einmal in realen Zahlen aus. Legen wir die 46.607 Wahlberechtigten als die 100 Prozent zugrunde — und nur dies ist, gerade bei Kommunalwahlen, überhaupt sinnvoll –, dann ergeben sich folgende, aussagekräftigere Zahlen: 18,3 Prozent hätten Hochheim gewählt — ein Ergebnis, über das sich auf Bundesebene höchstens die FDP freuen würde. Und nur 16,3 Prozent entschieden sich für Fassbinder — reicht das noch für eine echte Opposition? Ziehen wir noch die 2,2 Prozent Protestwähler (Wieland) ab, und rechnen wohlwollend die ungültigen Stimmen (bei 1 Stimme für 3 Kandidaten kann sowas passieren) hinzu, so bleiben schließlich 63,2 Prozent Nichtwähler übrig. Eine Zweidrittelleerheit — Greifswald müsste als unregierbar eingestuft werden.

Rigor Mortis Democratiae

Eine Stadt, in der die Menschen so offenkundig lethargisch und desinteressiert sind, dass sie nicht einmal Lust zum Protestwählen haben, kann durchaus als demokratieverdrossen bezeichnet werden. Da stehen effektiv zwei „echte“ Kandidaten für ein Amt zur Auswahl, das immerhin nur alle sieben Jahre neu besetzt werden kann und welchem scheinbar nicht sehr viel Bedeutung beigemessen wird. Der Dritte, mit dem man sich hätte freuen können, war der Student Björn Wieland, den die Partei DIE PARTEI ins Rennen geschickt hat, Danke dafür! Es gab somit also drei Möglichkeiten, seinem Wunsch nach Veränderung Ausdruck zu verleihen: 1. ungültig wählen, 2. Wieland wählen, 3. Fassbinder wählen.

wahlplakate greifswald jörg hochheim Woher kommt dieses Nullinteresse an den Zuständigkeiten in der eigenen Stadt? Liegt es an den lieblosen Bau- und Verkehrskonzepten? An den beschönigten Kriminalitätszahlen? An den Parallelgesellschaften Uni, Innenstadt und Rest? Oder rührt der Frust von den Versäumnissen von Universität und Stadt, in Greifswald für Vollbeschäftigung zu sorgen, her? Vielleicht liegt es schlicht daran, dass nur ein kleiner Teil der Menschen, die hier leben, Greifswald als ihr Zuhause, als IHRE Stadt sehen. Vielleicht ist das Politspektakel im Großen wie im Kleinen tatsächlich nur eine Scharade und die wirklich relevanten Entscheidungen werden auf einer Ebene getroffen, die den Normalmenschen nicht mal als Arbeitnehmer tangiert. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders.

Ob alles anders und oder besser wird, muss nun die Stichwahl am 10. Mai richten; man wird sehen. Bürgerbeteiligung funktioniert nur in beide Richtungen. Ich möchte jedenfalls nicht, dass mein Zuhause von jemandem geleitet wird, der von einer Minderheit in sein Amt gewählt wurde.

(Foto: Fleischervorstadt-Blog)

Dominik Wachsmann ist Jahrgang 1980, Wahlgreifswalder seit 2006, Ex-Student, StuTheist, Kulturfreund und Inhaltepfleger bei wort-suchen.de

4 Gedanken zu „OB-Wahl 2015: Wahl ohne Beteiligung

  1. Vielleicht lag es aber, wenn wir hier schon Wahlforschung betreiben, an der Wahlmöglichkeit? Die „zwei schrecklich netten Typen“, wie die OZ heute schreibt, unterscheiden sich in den Augen der Wählenden vielleicht zu wenig, schon gar nicht in „rechts“ oder „links“ oder „fortschrittlich“ und „rückschrittlich“. „Zwei seriöse Herren, denen man durchaus sein Auto leihen würde und es immer vollgetankt und gewaschen zurückbekommt.“ Vermutlich reicht das nicht für eine allgemeine Mobilmachung…
    http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/MV-aktuell/Zwei-schrecklich-nette-Typen

    1. Bleibt die Frage, warum nicht mehr Kandidaten ins Rennen gingen? Warum hat die „AL“ denn keinen Kandidaten oder eine Kandidatin aufgestellt?

  2. @FBMri:
    Bei der dynastischen CDU-Dominanz könnt man doch das Nicht-Aufstellen mehrerer Kandidaten so langsam als sinnloses Unterfangen akzeptiert haben! Dauernd diese alten Kamellen – jetzt noch vor der Stichwahl(!). Also: Die OB-Wahl 2008 hat’s doch nun wirklich ausreichend bewiesen. Wie schon von Herrn Wachsmann angedeutet: Damals gab’s fünf Kandidaten mit kleinprozentigen Stimmanteilen und den lachenden Sechsten mit 59 Prozent.
    Jetzt gibt’s wenigstens einen aussichtsreichen Kandidaten. So schlecht war der Plan bis hierher also nicht. Und warum soll den potenziellen Wähler jetzt noch die AL jucken?!

    @Dr. Ulrich Rose:
    War es hier und jetzt wirklich nötig auf die OZ zu verlinken, um mit „vielleicht“ zu betonen, dass Beide versuchen sich als ‚nette Typen’ darzustellen? Nein. Das weiß man doch längst.
    Und auch für den Unwissenden wäre es überhaupt nicht bemerkenswert unnormal, dass man beim ‚Vorstellungstermin’ erstmal seriös/massentauglich rüber kommen möchte. Ja, die eine oder andere Nuance hätte die Kandidaten durchaus setzen können, aber das hat sich eben keiner der Beiden so richtig getraut. Sich darüber zu belustigen ist okay, haben wir doch alle – aber jetzt(!) noch so eine „vielleicht“ Drama-Lamadecke draus zu stricken – das ist doch Unsinn.
    Morgen in der Wahlkabine sollte sich einfach Jeder(!) die Frage beantworten können, welcher der Beiden der Wolf im Schafspelz ist – und dann eben genau den Anderen ankreuzen. So einfach war es doch noch nie – Menschenkinder! Mehr geht eben einfach nicht für die nächsten sieben (7!) Jahre.

    Bleibt die Frage:
    Was sollte den Lesern vor der Stichwahl(!) mit den beiden vorherigen Kommentaren so mitgeteilt werden? Nichts von Belang. Nach Zerflücken beider Texte bleibt sogar nur die Interpretation einer Nichtwahl-Empfehlung. Das ist schade, weil der Kommentar (Artikel) von Herrn Wachsmann richtig wichtig ist!

    Naja, … da ich eh grad hier bin, bleibt noch sagen:
    Hallo Nichtwähler,
    die meinen, dass ein Systemwechsel die einzige Option wäre:
    Einer von Beiden steht für zumindest für Systemwandel – und das wäre erstmal ein Schritt in die andere Richtung. Man kann nicht alles haben und die Option für die nächsten sieben (7!) Jahre wäre ein alternativloses ‚Weiter so’.

    Wählt!

    -FIN-

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