Judith Schalansky – Verzeichnis einiger Verluste

Ein Gastbeitrag von Martin Hiller

Die in Greifswald geborene Schriftstellerin Judith Schalansky wird immer auch über ihre Arbeit als Buchgestalterin wahrgenommen. Der Schriftsatz, die Haptik des Buchumschlags, die Steifigkeit und Laufrichtung des Papiers und sicher auch das die Lesenden umfangende, sonderbare Gefühl der Teilhabe an der – Blatt um Blatt sich fortstrickenden – Aufschlüsselung und Belebung des auf Buchseiten in Glyphen und Zeichen festgehaltenen Textwerts – all das ist für Judith Schalansky gleichwertig zum Textkörper als Speicher aneinandergereihter Chiffren.

Für Judith Schalansky erscheint das Buch, so schreibt sie im Vorwort zu „Verzeichnis einiger Verluste“, als „vollkommenstes aller Medien“. Seine vermeintliche Limitiertheit in der Umrahmung durch zwei Buchdeckel, sieht sie als seine eigentliche Qualität, seinen sinnlichen Vorteil den körperlosen Medien gegenüber. Ein Buch, „in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen“, sei als Kunstform und Medium in der Lage, „wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen“.

In dem nun im Suhrkamp Verlag erschienenen „Verzeichnis einiger Verluste“ beschäftigt sich Schalansky mit nicht weniger als Allem und Nichts; mit dem großen Ganzen und – das liegt in der Natur der Sache – auch dem kleinen Bruchstückhaften. Das was als Verlust festgestellt wird, muss schließlich irgendwann mal da gewesen sein, in graduellen Abstufungen für manche mehr, für manche eben weniger.

Judith Schalansky

Judith Schalansky (Foto: Jürgen Bauer / Suhrkamp Verlag)

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„Eine drollige Gattung Bluthunde“, oder: Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit

Prof. Dr. Eckhard Schumacher (Universität Greifswald, Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie)

Man müsse, hört man häufig, Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit verstehen. So habe man eben damals gedacht, wir hatten keine besseren Demokraten, wird gesagt. Auch das macht den Streit um den Namenszusatz der Universität Greifswald so befremdlich und so schwer nachvollziehbar. Tatsächlich kann man ohne größere Schwierigkeiten feststellen, dass im frühen 19. Jahrhundert chauvinistischer Nationalismus und wütender Antisemitismus ähnlich weit verbreitet waren wie schöne Märchen und mittelmäßige Dichtung. Die Mahnung, man müsse Arndt in seiner Zeit verstehen, zeugt allerdings häufig doch nur von erkennbar überanstrengten Bemühungen, diese Zeit so zu rekonstruieren, dass sich Fremdenhass und Antisemitismus relativieren lassen (und man im gleichen Zug Mittelmäßigkeit nicht mehr so recht als solche identifizieren kann).

Viele haben wie Arndt gedacht, wenn auch nicht so viele, wie manche es heute gern sehen würden. Viele aber, und das wird gelegentlich ausgeblendet, haben nicht so gedacht. Deutlich wird dies schon, wenn man nur einige der Stimmen aufruft, die Arndt schon insofern „in seiner Zeit“ verstanden haben, als sie selbst in eben dieser Zeit gelebt, gelesen, geschrieben und dabei nicht immer weit von ihm entfernt gestanden haben.

Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit

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Chronik der laufenden Konterkulturrevolution: ARNDTernative für Deutschland in Greifswald?

Vorabdruck eines Beitrags von Prof. em. Dr. Jürgen Link aus der kommenden Ausgabe der „kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie

1933 verlieh Hermann Göring persönlich der Universität Greifswald den als Ehrentitel verstandenen Zusatz »Ernst-Moritz-Arndt-Universität«. Das geschah auf Bitten von Greifswalder Nazi- oder nazinaher Profs, die sich davon eine Aufwertung versprachen. Denn der auf Rügen geborene Arndt galt als Pommer, und er galt als einer der frühesten und wichtigsten Vordenker des Nationalsozialismus. 1945 erlosch mit dem Nazismus zunächst auch der Ehrentitel — bis ihn die DDR für sich beanspruchte und damit sozusagen konsakrierte.

deutsche schwadronage

Das konnte sehr überraschen — weil die damaligen Deutschen, einschließlich der von den Nazis vertriebenen Juden, Sozialisten, Kommunisten und Radikaldemokraten, sämtlich einige einschlägige Verse des »Dichters der Befreiungskriege« (gegen Napoleon) in der Schule hatten auswendig lernen müssen. Verse wie

»Was ist des Deutschen Vaterland?/ So nenne mir das große Land!/ Ist’s Land der Schweitzer? Ist’s Tirol?/ Das Land und Volk gefiel mir wohl./ Doch nein! nein! nein!/ Sein Vaterland muss größer sein!«

In fünf Strophen kommt der Refrain fünfmal, und dann die schaurigschöne Strophe: »Das ist des Deutschen Vaterland,/ Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand./ Wo jeder Franzmann heißet Feind,/ Wo jeder Deutsche heißet Freund.« Oder das berühmte »Der Gott, der Eisen wachsen ließ«. Das sollte plötzlich nicht zur Archäologie des Nazismus, sondern der DDR gehören? „Chronik der laufenden Konterkulturrevolution: ARNDTernative für Deutschland in Greifswald?“ weiterlesen

Kleinode an die Freunde: „Einhundert smarte Tipps für alle Lebenslagen“

Heute erscheint im Buchhaus „Vier & Sause“ das charmante Büchlein „Einhundert“, eine Liebeserklärung an uns und unsere Fähigkeiten.

„Lies und lächle!“, so endet der kurzgefasste Klappentext von „Einhundert Tipps für alle Lebenslagen“. Das ist der der Auftrag dieser Weisheitensammlung aus Greifswalder Feder, die heute, am 17.07. um 17.07 Uhr im frisch gegründeten Buchhaus Vier & Sause erscheint. Erste Arbeitsthese beim Lesen: Wer diese Ratschläge befolgt, erspart sich und seiner sozialen Umgebung einigen Ärger und weiß andere Momente dagegen besser zu nutzen.Einhundert smarte Tipps für alle Lebenslagen

„Kann Spuren von Vernunft, Humor und Herzenswärme enthalten“

Gesammelte Tipps fürs Leben? Klingt nicht nur unspektakulär, sondern auch verdächtig missionarisch. Auf „Einhundert“ trifft dankbarerweise beides nicht zu. Das Büchlein hält hundert Bauernregeln für die zwischenmenschliche Feldarbeit bereit. Erdacht und gesammelt von Marian Kummerow. Der Greifswalder hat Lebenserfahrung und die Freude am Zwischenmenschlichen auf jeweils nur wenig mehr als hundert Zeichen komprimiert. Kaum einer dieser Tipps ist dabei also länger als ein Tweet. Den verbleibenden Raum füllen die Illustrationen von Anne Schreiber und Sven Laubig. Das ist wichtig zu wissen, denn „Einhundert“ ist auch eine illustratorische Arbeit.

Das Gesamtwerk erscheint als handliches Büchlein. Dieses Format geht auf. Mit einem Augenzwinkern zwischen den Bildern und Worten führt „Einhundert“ durch Szenen des Alltags und ermuntert zu Dialog und Wohlfühlverhalten im Sinne eines Verhaltens, das andere sich wohlfühlen macht. Schlussstriche sollten nicht mit dem Bleistift gezogen werden, Ärzte sollte man tunlichst nicht belügen („Nie!“) und Türen wurden nicht umsonst erfunden, also geh‘, wenn du nicht bist, wo du sein willst! 

Leseprobe: Einhundert smarte Tipps für alle Lebenslagen„Einhundert“ ist ein Kleinod an die Freunde, ein Link in die liebevoll gestaltete Vergnüglichkeit, ein zukunftslustvoller Impulsgeber. Arbeitsthese bestätigt. Lies und lächle!

Marian Kummerow, „Einhundert smarte Tipps für alle Lebenslagen“, Illustration: Anne Schreiber & Sven Laubig, 1. Auflage, Greifswald 2017, Buchhaus Vier & Sause, ISBN 987-3-00-056-433-8

Greifswalder Literaturfrühling: Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte

Die BBC ließ über 25 Jahre lang anonyme Zuschriften von DDR-Bürgern verlesen. Einige Autoren wurden dafür gnadenlos von der Stasi verfolgt — darunter auch ein Junge aus Greifswald.

Im Rahmen des 4. Greifswalder Literaturfrühlings findet heute Abend im Koeppenhaus eine Lesung mit der Autorin Susanne Schädlich statt. Die 1965 in Jena geborene Schriftstellerin verließ als Kind 1977 mit ihrer Familie die DDR, da ihr Vater, Hans Joachim Schädlich, ebenfalls Schriftsteller, dort nicht mehr ungehindert arbeiten konnte. Die neue Heimat war fremder als gedacht, und der lange Arm der Stasi sollte die Familie bis in den Westen verfolgen.

Susanne Schädlich DDR BBC

Vor etwa zwei Wochen erschien Schädlichs Buch „Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte“. Darin erzählt Schädlich die Geschichte der gleichnamigen BBC-Rundfunksendung, die ab 1949 über 25 Jahre lang jeden Freitag ausgestrahlt wurde. In dem Format wurden anonym zugesandte Briefe von DDR-Bürgern verlesen, die mit ihren zu Papier gebrachten Schilderungen, Fragen und Gedanken ein hohes persönliches Risiko eingingen. Schädlich stieß auf diese Zeitdokumente und erzählt nun von dieser Facette des zivilen Ungehorsams gegen die DDR-Führung. Sie möchte mit ihrem Buch den mutigen Absendern ein Denkmal setzen, die der gnadenlosen Nachverfolgung durch die Stasi zum Opfer fielen. Unter ihnen ist Karl-Heinz Borchardt, ein Junge aus Greifswald, der nach wie vor in der Hansestadt lebt und heute Abend ebenfalls auf dem Podium sitzen wird.

Die Lesung findet in Kooperation mit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU) Außenstelle Rostock statt. Das anschließende Gespräch zwischen Schädlich und Borchardt wird von deren Leiter, Volker Höffer, moderiert.

Fakten: 07.04. | 20 Uhr | Koeppenhaus | 6/4 EUR

(Foto: Susanne Schleyer)

Fallada-Festival: Literarischer Rundumschlag zum 70.

Anlässlich des 70. Todestags des in Greifswald geborenen Schriftstellers Hans Fallada findet an diesem Wochenende das gleichnamige Literaturfestival statt.  

Bedeutende Söhne der Stadt erleben derzeit in Greifswald eine ungewohnte Renaissance. Ob sich dieses neuentdeckte Interesse nur auf einen in Groß Schoritz geborenen Heimatdichter beschränkt oder das Interesse für hiesige Autoren darüber hinausgeht, wird sich an diesem Wochenende beim Fallada-Festival zeigen. 

Fallada-Festival in Greifswald

Zehn Veranstaltungen laden zu einer Beschäftigung mit dem großartigsten Schriftsteller aus der Fleischervorstadt ein. Die meisten finden in seinem Geburtshaus in der Steinstraße — dem Falladahaus — statt. Dort ist unter anderem Achim Ditzen, Falladas Sohn, zu Gast. Er wird aus den Briefen seines Vaters lesen. Bei weiteren Lesungen kann man Hannes Rittig (Jeder stirbt für sich allein) und Jan Holten (Der Trinker) erleben. Vorträge über Fallada steuern Prof. Dr. Eckard Schumacher, Dr. Roland Ulrich (beide Universität Greifswald) und Stefan Knüppel (Fallada-Museum Carvitz) bei.  „Fallada-Festival: Literarischer Rundumschlag zum 70.“ weiterlesen