Gremienwahlen an der Universität: „Democratic Avengers“ und die bittersüße Rache der Demokratie

Heute haben die Gremienwahlen an der Universität Greifswald begonnen. Studierende können nun bis zum 17. Januar ihre Stimmen für die Zusammensetzung des Studierendenparlaments (StuPa), des akademischen Senats, der fünf Fakultätsräte sowie mehrerer Fachschaftsräte abgeben und bestimmen, wer in den nächsten Monaten miteinander das trockenste Brot des Uni-Lebens brechen muss.

KONSERVATIVE SUPERSTARS AUF RACHEFELDZUG 

Bei der Wahl des akademischen Senats konkurrieren 44 Studierende um die zu vergebenden 12 Mandate. Davon tritt der größte Teil (27) auf der Liste „Solidarische Universität“ an. Für den Senat bewerben sich bedeutend mehr Konservative als für das StuPa. So zählt die Liste — bitte an dieser Stelle kurz innehalten, gegebenenfalls austrinken und tief durchatmen — „Democratic Avengers“ insgesamt 13 Kandidierende. Das Feld der „demokratischen Rächer“ reicht von A wie Amthor bis V wie Vierkant, von der Jungen Union bis zum RCDS, von der katholischen Studentenverbindung Alemannia bis zur Burschenschaft Markomannia. Außerdem stellen sich drei Kandidaten von der zur Partei DIE PARTEI gehörenden Hochschulgruppe (HSG DIE PARTEI) sowie ein freier Bewerber zur Wahl.

(Montage: Fleischervorstadt-Blog, Original: Disney)

Noch weniger spannend als die Senatswahl wird wohl die Bestimmung des zukünftigen Studierendenparlaments ausfallen. Bei dieser Wahl ringen in diesem Jahr 30 Kandidierende um 27 Mandate — das sind noch drei Bewerber weniger als beim vorletzten Votum im Januar 2012, als sich nur 33 Studierende zur Wahl stellten. Diese spärliche Auswahl hat zur Folge, dass mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch all jene früher oder später ins Parlament nachrücken dürfen, denen durch die Wahl eigentlich kein Platz vergönnt war — ist das nicht ein bittersüßer Racheakt der Demokratie? „Gremienwahlen an der Universität: „Democratic Avengers“ und die bittersüße Rache der Demokratie“ weiterlesen

„Oh mein Gott, wie fickt der bloß!“ — die Materie des Jürgen Landt

Jürgen Landt wurde in Loitz geboren („und dann riss ihr der damm. ich war da.“), erlebte in Vorpommern seine Jugend zwischen Schweinesuff und DDR-Strafvollzug („sich bewusstlos zu saufen und da im Dreck zu liegen; aber als junger Bengel stehst du ja sofort wieder auf“), wurde 1983 ausgebürgert und lebte anschließend in Hamburg. Nach der Wende zog er zurück nach Vorpommern und lebt seitdem in Greifswald.

Ole Schwabe, früher als Feuilletonist bei den Moritz Medien tätig, produzierte im vergangenen Jahr das Radiofeature „Oh mein Gott, wie fickt der bloß!“ — die Materie des Jürgen Landt und porträtierte in dem absolut hörenswerten Stück den als Vorpommerns Bukowski gehandelten Selbstzerstörer.

Jürgen Landt Greifswald

Wenn Landt spricht, ist seine Herkunft schnell zu verorten, was dieses Feature für Freunde vorpommerscher Mundart zu einem Hochgenuss macht. Neben ihm sind ein Literaturwissenschaftler, sein Verleger und eine Kulturjournalistin zu hören; außerdem wohlselektierte Musik aus den Achtziger Jahren sowie vertonte Landt-Texte.

Im Dezember 2013 erschien von Jürgen Landt Letzter Stock im Feuer (2013) im Greifswalder freiraum-verlag.

Mehr zu Jürgen Landt:

 (Foto: freiraum-verlag)

Rückschlag für Douglas Fernando: Kaufvertrag mit Petruswerk wird rückabgewickelt!

Im nichtöffentlichen Teil der Greifswalder Bürgerschaftssitzung wurde gestern Abend beschlossen, dass dem Petruswerk keine weitere Verlängerung der Zahlungsfrist für das Areal in der Hafenstraße eingeräumt wird. Der Vertrag zwischen der Stadt und dem Immobilienunternehmen von Douglas Fernando soll nun rückabgewickelt werden.

KONKURS IN ÖSTERREICH UND EINE ASIATISCHE FRISCHGELDKUR

Ende 2012 verstrich Fernandos letzte Frist, um die fälligen 1,6 Millionen Euro für die erworbenen sechs Hektar Land zu bezahlen. Das Petruswerk plante, dort auf einer Fläche von insgesamt 13 Hektar ein Wohngebiet am Ryck zwischen der Marienstraße und An den Wurthen zu errichten.

buergerschaft greifswald douglas fernandoNoch vor einer Woche berichtete die Ostsee-Zeitung, dass das Petruswerk das notwendige Geld inzwischen beisammen hätte — ein asiatischer Großkonzern sollte die für die Investition notwendigen 120 Millionen Euro beisteuern.

Doch an der finanziellen Vitalität des Petruswerks bestehen erhebliche Zweifel — nicht zuletzt deswegen, weil es im vergangenen Jahr in Österreich heftig ins Straucheln geriet. Gegen das von Fernando vor vier Jahren übernommene Unternehmen Aktivbau wurde im November 2012 sogar ein Konkursverfahren eröffnet; die Verbindlichkeiten sollen sich dort mittlerweile auf über sechs Millionen Euro belaufen. Ein Insolvenzverfahren gegen das Petruswerk wies das Linzer Landgericht zwar Ende des vergangenen Jahres ab, die Angelegenheit ist allerdings noch nicht vom Tisch.

ENDLICH EIN DEUTLICHES ZEICHEN DER GREIFSWALDER STADTVERWALTUNG

Im Januar 2013 empfahl der Finanzausschuss der Bürgerschaft die nun beschlossene Rückabwicklung des Vertrages. Das Petruswerk besitzt trotzdem noch drei Hektar Land am Hafen und den Alten Speicher in der Marienstraße. Dessen Abriss wurde im April 2012 genehmigt; er soll einem großen Hotelbau weichen. Außerdem gehört dem Unternehmen seit Januar 2008 das denkmalgeschützte Gebäude in der Stralsunder Straße 10 (Straze), das seit dem Kauf und einem abgelehnten Abrissantrag langsam, aber stetig verfällt.

Vermisste man in der Vergangenheit eine selbstbewusste Haltung der Stadtverwaltung gegenüber dem Petruswerk, so wurde jetzt endlich einmal ein deutliches, längst überfälliges Zeichen gesetzt. Douglas Fernando steht es natürlich frei, sich zeitungsöffentlich über Zweifel an der „Finanzkraft und Seriosität seines Unternehmens“ zu ärgern — ein kurzer Ausflug in das durch ihn blockierte Initiativhaus Stralsunder Straße 10 hilft jedoch ungemein dabei, das zögerlich aufsteigende Mitleid zu überwinden.

(Foto: Thomas Max Müller / pixelio.de)

Mehr dazu: 

  • Die Greifswalder Einkaufstour des Immobilienmagnaten Douglas Fernando (Fleischervorstadt-Blog, 08.02.11)
  • Petruswerk hat Finanzprobleme in Österreich (daburna, 18.11.12)
  • Greifswalder Bürgermeister behält zwei Beigeordnete (webMoritz, 26.02.13)

Greifswald im Radio: Rechtsextremisten an deutschen Hochschulen und das Outing des Neonazis Marcus G.

Der Südwestdeutsche Rundfunk (SWR) sendete kürzlich einen Beitrag über Neonazis an deutschen Universitäten, in dem auch das Outing des in Greifswald studierenden Rechtsextremisten Marcus G. thematisiert wird. Im  November 2011 machte eine Gruppe Verkleideter während einer Vorlesung auf dessen neonazistische Aktivitäten öffentlich aufmerksam.

marcus g. nsg(Foto: Indymedia)

Braune Kommilitonen — Rechtsextremismus an Hochschulen thematisiert zuerst den Potsdamer Praktikumsstreit zwischen der dortigen Hochschule und einem immatrikulierten NPD-Anhänger, der im Interview auch über Schulungsbemühungen in der rechten Szene spricht. Bernhard Wagner vom Aussteiger-Programm Exit ergänzt dessen Ausführungen aus anderer Perspektive und berichtet von curricularischen Aufzeichnungen ehemaliger Neonazis.

An der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg tritt eine rechte Hochschulgruppe, die ein NPD-Stadtratsmitglied gründete, bei den Gremienwahlen an. Das Thema Burschenschaften wird am Beispiel der Hochschule in Gießen behandelt, dann geht es schließlich um Greifswald.

EINSCHÜCHTERUNGSVERSUCHE GEGEN DEN WEBMORITZ: „DIE FRIST WAR IRGENDWIE ACHT MINUTEN“

Mit Gabriel Kords, Simon Voigt und Felix Kremser wird ein Teil der ehemaligen und der gegenwärtigen Chefredaktion des webMoritz interviewt. Die Studenten sprechen über ihre Berichterstattung zur Causa Marcus G. und die juristischen Drohungen, mit denen der Neonazi auf das mediale Interesse an seinen Aktivitäten reagierte. „Greifswald im Radio: Rechtsextremisten an deutschen Hochschulen und das Outing des Neonazis Marcus G.“ weiterlesen

Auf einem guten Weg: Mehr als 900 Menschen demonstrierten friedlich gegen Neonazis

Die von der Gruppe Defiant organisierte Antifa-Demonstration vom 10.12. ist in mehrerlei Hinsicht als Erfolg zu werten. Die erwartete Teilnehmerinnenzahl wurde weit übertroffen und trotz der martialischen Aufrufe gestaltete sich der Tag fast ausnahmslos friedlich.

Die im Vorfeld der Veranstaltung von Seiten der Ostsee-Zeitung geschürten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Gemeinsam und vielfältig wurde ein deutliches Signal gesendet — sowohl nach innen als auch nach außen.

Neunhundert Menschen, sieben Kilometer, zwei Blöcke, eine Idee: Kein Platz für Nazis!

Mehr als 900 Leute, von denen sich etwas mehr als die Hälfte — zumindest vereinfacht — dem klassischen Antifa-Spektrum zugeordnen ließ, versammelten sich am Südbahnhof. Dem vorwiegend von jungen Männern besetzten ersten Block folgte ein zweiter, der bunter zusammengesetzt war und je nach Position mehr oder weniger unausweichlich dem hedonistischen Spaziertanzdiktat unterstand; dazu bekannte kommunalpolitische Gesichter aus den Reihen der Grünen und Mitglieder der Piratenpartei.

Die Demonstration dauerte dreieinhalb Stunden und führte vom Startpunkt Südbahnhof durch die Neubaugebiete Schönwalde I und II bis zur Mensa am Wall. Auf der über sieben Kilometer langen Strecke wurden insgesamt fünf Redebeiträge gehalten, unter anderem von der Antirassistischen Initiative aus Greifswald, die auf die Lebensbedingungen von Flüchtlingen hinwies.

Taktiker in Grün-Weiss: Zurückhaltung und (De)Eskalation

Die Polizei verhielt sich zu Demonstrationsbeginn zurückhaltend, verschärfte dann aber zusehends die Einsatzstrategie und flankierte schlussendlich den ersten Block auf beiden Seiten mit geschlossenen Polizeiketten. Die Route führte unter anderem am Haus eines federführenden Aktivisten der Nationalen Sozialisten Greifswald (NSG) vorbei, zu dessen Schutz sich die Polizei davor mit zwei Wasserwerfern und mehreren Einsatzwagen aufstellte und vermutlich aus Angst vor Ausschreitungen die Demonstration vom Gebäude abschirmte.

Nachdem dieser Teil der Strecke passiert wurde, wich die Anspannung bei den Protestlern und den Beamten, einem ruhigen Ende der Demonstration stand nichts mehr im Wege. Doch kurz vor der Europakreuzung drohte die Situation ein letztes Mal zu eskalieren, als mehrere Polizisten in den Block eindrangen, um Einzelne an diesem späten Dezembernachmittag wegen des Verstoßes gegen das Vermummungsverbot festzunehmen.

Der Arbeitskreis Kritischer Jurist_innen (AKJ), der als Beobachter an der Veranstaltung beteiligt war, kritisierte Ort und Zeitpunkt dieser Festnahmen, die „an einem stark frequentierten Ort kurz vor Ende der Demonstration“ durchgeführt wurden:

„Durch die absehbare Unruhe wurde bei den Passant_innen der Eindruck einer äußerst gewalttätigen Demonstration geweckt, was nicht dem bisherigen Demonsrationsverlauf entsprach. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob die Polizei diese Maßnahme bewusst an einem der belebtesten Orte Greifswalds durchgeführt hat.“

Zusammenfassend kann bilanziert werden, dass die Demonstration sowohl vonseiten der Polizei als auch der Demonstrierenden weitesgehend unaufgeregt und besonnen verlief. Es wurden vier Personen festgenommen. Auch Polizeisprecher Falkenberg zeigte sich mit dem Ablauf der Demonstration insgesamt zufrieden und bedankte sich für die gute Kooperation und Kommunikation mit den Organisatoren, wie der webMoritz berichtete.

Vermummen statt verstummen!

Die Polizei verstärkte im Verlauf der Demonstration allerdings nicht nur ihr personelles Aufgebot, sondern begann auch damit, Teilnehmerinnen zu filmen. Dies tat sie in Reaktion auf die mehrfach übermittelte Aufforderung, dass Anzünden von Feuerwerkskörpern zu unterlassen. Was dem Einzelnen seine Demonstrationsamtosphäre bedeutet, nahm so vielen anderen das Recht auf das eigene Bild.

Die Beamten waren nicht die Einzigen, die reges Interesse daran zeigten, Foto- und Videoaufnahmen von der Demonstration zu machen So hingen unzählige Anwohner an den Brüstungen ihrer Balkone oder es wurden am Straßenrand die Kameras gezückt, um die aufregensten Momente für die Nachwelt festzuhalten — endlich mal was los! Einige dieser Fotografen traten vermummt an ihre Fenster und zeichneten gewissenhaft auf, wer da unten vorbeimarschierte. Nicht jeder Schaulistige mit gezückter Kamera ist ein Neonazi, jedoch war die politische Zuordnung einige Male, zum Beispiel beim gezeigten Hitlergruß in Schönwalde oder beim Fahrzeug, was neben der Koitenhäger Landstraße parallel zur Demo fuhr und durchgehend filmte, überdeutlich.

Wem will man da verübeln, wenn er Schal und Mütze tiefer ins Gesicht zieht, um die missbräuchliche Verwendung des eigenen Bildes zu verhindern? Noch dazu im Dezember, nachdem die Teilnehmerinnen schon mehrere Stunden im Freien verbrachten? Das Vermummungsverbot scheint angesichts der technischen Ausrüstung mancher Privathaushalte nicht mehr besonders zeitgemäß, wenngleich es am Sonnabend nur gegen Teilnehmerinnen des ersten Blocks durchzusetzen versucht wurde.

Auf Krawall aus: Die Ostsee-Zeitung

Der große Verlierer der vergangen Woche ist traurigerweise die Lokalzeitung, die gleich zwei Themen zur rechtsextremen Problematik versemmelte. Aufregungen und Skandale sind die essentiellen Wesenszüge des Lokalteils, seit Redaktionsleiter Fischer seine Vision eines zeitgemäßen Action-Journalismus zu verwirklichen sucht.

Bei der jüngsten 24-Stunden-Vorlesung dozierte der junge Redaktionsleiter darüber, dass die Leserinnen kaum einen Artikel bis zum Schluss lesen würden und der knalligen Überschrift darüber deswegen eine noch größere Relevanz zukäme. Angesichts solcher Feststellungen sollte er sich vielleicht besser fragen, woran seine Artikel kranken. Vor allem aber wäre ein behutsamerer Umgang mit Überschriften angeraten.

Schon die Ankündigung spiegelt wider, wie sich der Redakteur eine linke Demonstration vorstellt: als Event, in dessen Vordergrund die eingesetzten Polizeikräfte stehen, die „den Demonstrationszug vor Übergriffen zwischen Links- und Rechtsextremisten absichern“ sollen. Wenige Zeilen später räumt man zwar ein, dass es nach OZ-Informationen noch (!) keine  „konkreten Hinweise auf mögliche Auseinandersetzungen“  gäbe, aber bis dahin werden die Artikel der OZ ja nach Aussage des Chefredakteurs kaum gelesen.

Und so fiel dann auch das Resümee der Zeitung aus: „Polizei nimmt vier linke Randalierer fest“. Das ist die Kernaussage, die vom Sonnabend bleibt. Und wie sahen die Demonstranten aus? „Die meisten von ihnen schwarz gekleidet, zum Teil vermummt, mit Bannern, auf denen wütende Sprüche standen“. Die zufriedene Bilanz der Polizei blieb außen vor.

Dabei lobte Fischer nur eine Spalte weiter die hiesige Zivilgesellschaft und malt gleichzeitig an seiner eigenen schwarz-weißen Welt weiter: „In Greifswald sind am Wochenende nicht nur linksautonome Demonstranten aus Berlin und Hamburg, sondern auch junge Menschen aus Vorpommern gegen Rechts auf die Straße gegangen. Nicht im schwarzen, sondern im bunten Block. Sie wollen nicht hinnehmen, dass rechtsextremes Gehabe zur Normalität wird. In keiner anderen Stadt im Nordosten zeigen die Menschen so entschieden Gesicht gegen Rechts wie in Greifswald. Deshalb sammeln wir im Rahmen unserer OZ-Weihnachtsaktion für die Kunstwerkstätten, die einen Teil dieser gelebten Zivilgesellschaft hinaus in den Landkreis tragen.“

Dass der gleiche Chefredakteur sich und die von ihm verantwortete Lokalzeitung hier einzureihen versucht, ist angesichts seines reißerischen Umgangs mit dem Thema eine Schande. Pfui Teufel, Herr Fischer!

Was bleibt?

Demonstrationen verändern fast nie etwas und doch wirken sie nicht selten auch noch nach ihrer Auflösung weiter. Die Gruppe Defiant hat ihre erste große Demo organisiert und die erwartete Teilnehmerzahl weit übertroffen. Viele Leute im bunten Block erweckten zwar den Eindruck, dass sie aufgrund des als martialisch kritisierten Mobilisierungsaufrufs Bedenken bezüglich eines geordneten und gewaltfreien Ablaufs der Demonstration trügen, jedoch verlief die Veranstaltung in Anbetracht der Beteiligung weitesgehend frei von Zwischenfällen. Wer in Greifswald wirkliche Auseinandersetzungen sucht, muss sich schon nachts vor der Mensa oder zum Jahresende auf dem Marktplatz umsehen.
defiant

Aber mit einer Demonstration ist das Greifswalder Neonazi-Problem selbstverständlich nicht gelöst, und das wissen auch die Aktivistinnen von Defiant, die in ihrer Pressemitteilung die Demo zwar als Erfolg bewerten und einen sehr gelösten Eindruck machten, jedoch auch darauf hinwiesen, dass der Kampf gegen die Neonazis „das gemeinsame Zusammenhandeln aller und viel Ausdauer“ braucht. Man kann sich nach diesem Wochenende dem defiantistischen Statement anschließen und ebenso hoffnungsvoll enden: Wir sind auf einem guten Weg!

Mehr zum Thema:

  • Demobeobachtung von der Antifa-Demo (PM AKJ, 10.12.11)
  • Greifswald im Winter (Kombinat Fortschritt, 11.12.11)
  • Wasserwerfer am Wegesrand – Antifa-Demo zieht durch Greifswald (webMoritz, 11.12. 11)
  • 900 Personen bei Anti-Nazi-Demo in Greifswald (daburna, 11.12.11)
  • Antifaschistische Demonstration (Moritz TV, 11.12.11)
  • Schlägereien nach Anti-Rechts-Demo (NDR, 11.12.11)
  • Wer ein Mal lügt (Ostsee-Zeitung-Blog, 12.12.11)
  • Was so berichtet wurde (Pressespiegel Defiant, 12.12.11)

Von gerissenen Wölfen und furchtsamen Schafsköpfen. Eine Retourgutsche

Für immatrikulierte Neonazis wird es an deutschen Universitäten langsam ungemütlich, denn in jüngster Zeit häufen sich Aktionen, in deren Verlauf Studierende und Dozenten darauf aufmerksam gemacht werden, wer mit ihnen gemeinsam die Hochschulbank drückt und wessen Geistes Kinder diese junge Männer sind. Seit Novemberbeginn widerfuhr dies sowohl Daniel F.  (Universität Rostock) als auch Manuel T.  (Uni Leipzig).

Der Startschuss für die neuerliche Transparenzoffensive an ostdeutschen Hochschulen wurde allerdings am 1. November in Greifswald abgegeben, als eine etwa zwanzigköpfige Gruppe die Einführungsvorlesung der Politikwissenschaft für knapp zwei Minuten unterbrach und die Anwesenden darüber informierte, dass unter ihnen ein aktiver Neonazi säße.

(Foto: Indymedia)

Die Gruppe bewarf Marcus G., der sich in Sekundenbruchteilen vermummte, mit Konfetti, verteilte flugs die mitgebrachten Flyer und verließ den Hörsaal ebenso schnell, wie sie ihn betreten hat. Der Dozent setzte seine Vorlesung anschließend fort.

STELLUNGNAHME VON G. UND DER VERZICHT AUF EINE KRITISCHE EINORDNUNG 

Wenig später beglückwünschte man sich für das gelungene Outing, das obendrein auch gefilmt wurde. Dieses Video verbreite sich wie ein Lauffeuer durch die sozialen Netzwerke und erntete Wohlwollen und Zustimmung. Doch neben allem Zuspruch wurde auch Kritik an der Aktion laut.

Damit ist nicht nur die tumbe Pressemitteilung des RCDS gemeint, in der die gewaltfreie Aktionsform als „Anstiftung zu Gewalttaten“ stilisiert wird, man sich großzügig der undurchdachten Links-Rechts-Gleichsetzung bedient und schon mal die Extremismuskeule aus dem Nachtschrank holt, sondern auch der webMoritz, dessen Redaktion sich 73 Jahre nach der Reichspogromnacht kein passenderes Datum als den 9. November für die Veröffentlichung einer Stellungnahme des Neonazis aussuchen konnte. 

Das Portal publizierte damit den nunmehr zweiten Artikel zum Thema, in dem der Autor die negative Kritik an der Aktion zusammenfasst — die Welle positiver Resonanzen blendet er jedoch vornehm aus.

Es ehrt zwar den journalistischen Ethos der Redaktion, dem Geouteten — der auf die Publikation des ersten webMoritz-Artikels umgehend mit juristischen Drohungen antwortete — eine Gegendarstellung einzuräumen. Doch ohne eine kritische Einordnung nützt das wenig und am Ende geriert sich ein mutmaßlicher Täter als Opfer. Alles vertauscht?

SICH SELBST INS AUS MANÖVRIERT

Dabei zieht sich ein grundlegender Denkfehler durch die in Greifswald geführte Debatte um das Outing von Marcus G., denn dieser Begriff wird vorschnell als diffamierender und verleumderischer Akt übersetzt, mit dem der Neonazi gesellschaftlich sanktioniert und ausgeschlossen werden soll.

Dabei wird ausgeblendet, dass es G. selbst war, der sich zielsicher ins Abseits jener demokratischen Gesellschaft manövrierte, die er in dieser Form gerne überwunden sähe. Denn auch nachdem er seine Heimatstadt Berlin und damit die 2005 verbotene, rechtsextreme Kameradschaft Tor hinter sich gelassen hat, nutzte er die Chance nicht, Leben und Denken neu zu sortieren und das Nazi-Kapitel zu beenden — im Gegenteil.

In Greifswald knüpfte er Kontakte zur rechten Szene Mecklenburg-Vorpommerns und trieb den Aufbau rechtsextremer Strukturen vor Ort voran. Diese Entwicklung ist vielfach belegt und straft die Stellungnahme von Marcus G. Lügen.

Der geoutete Neonazis weist in seinem Text zwar „jegliche Extremismusvorwürfe“ zurück, doch das ändert nichts daran, dass sein neonazistisches Wirken und Vernetzen dokumentiert ist.

Sei es als Fotograf bei NPD-Demonstrationen wie in Teterow, beim Plausch mit dem Rechtsextremisten Frank Klawitter (NPD-Demo Anklam 2010, siehe Foto), beim Konzertbesuch im KLEX mit dem rechtsextremen Kampfsportler Siegfried H. aus Rostock und dem Nazi-Aktivisten Reik P. aus Teterow oder beim gescheiterten Infiltrierungsversuch des städtischen Bündnisses Greifswald ist bunt – kein Ort für Neonazis.

UNI GREIFSWALD: KEIN ORT FÜR NEONAZIS!

Die Transparenzoffensive an der Greifswalder Universität ist in erster Linie als deutliches Signal an den früheren Jurastudenten Marcus G. zu verstehen, dem vielleicht schon jetzt einleuchtet, dass sich ein ungestörtes Studium nur schwer mit seiner antidemokratischen Ideologie in Einklang bringen lässt.

Seine Kommilitoninnen sind vor ihm gewarnt und wissen nun, dass neben ihnen im Seminar ein Neonazi Platz nimmt, der sich nicht nur mit Outings auskennt, sondern vielleicht auch etwas über Othering erzählen kann.

Ob man die Aktion uneingeschränkt befürwortet oder in allen Punkten kritisiert, ändert erstmal nichts an der Tatsache, dass mit Marcus G. gewiss nicht der Falsche um seine Anonymität gebracht wurde.

Ein warmes Wort des Dankes an die Aktivistinnen wäre da vielleicht angebrachter gewesen als die doch relativ einseitig ausgefallene Berichterstattung im zweiten webMoritz-Artikel zum Vorfall. Eine deutliche Positionierung in dieser Sache leistet sich das gerade umstrukturierte studentische Portal leider nicht.

Im zweiten webMoritz-Artikel wurde eine Manöverkritik des Fleischervorstadt-Blogs, die sich an der pommernprinzenhaften Pöbelei und der Lust an der eigenen Überlegenheit reibt, leider unvollständig und missverständlich zitiert; sie ist beim Kombinat-Fortschritt als Kommentar in ungekürzter Fassung sichtbar.