Dieser Text erschien im Vorboten, Dezember 2007
Halbjährlich vergessen weder unsere auflagenstärkste Lokalzeitung, noch die federführenden Köpfe von Stadtverwaltung und Universität, nicht, zu erwähnen, dass jene StudentInnen, die es gerade frisch nach Greifswald verschlagen hat, zweimal weinen werden -einmal zu Beginn ihres (Studien)Aufenthalts, ein weiteres Mal an dessen Ende.
Der gemeine Greifswalder an und für sich
Ich möchte mich an dieser Stelle gar nicht weiter gegen derartige Tränenprophezeiungen aussprechen, sondern vielmehr auf einen Typus Greifswalder aufmerksam machen, zu dem ich mich zähle und der in den feierlichen Ansprachen, die das jeweilige neue Semester eröffnen sollen, allzu selten Erwähnung findet: Der gemeine Greifswalder an und für sich. Damit bezeichne ich an dieser Stelle all jene, die hier schon länger leben und vorhaben, an diesem Zustand in den nächsten Jahren nichts zu verändern. Denn auch ich weine zweimal: Wenn die neuen StudentInnen nach Greifswald strömen und wenn sie später der Stadt den Rücken kehren.
Besonders unangenehm fallen jene HauptstädterInnen auf, die meine Stadt als Satelliten Berlins wahrnehmen und hier nur eine 5-Tage-Woche absolvieren, bis das ersehnte Wochenende erreicht ist. Deren Gesten des Amüsements über die nicht bestreitbare Provinzialität mehr wiegen, als die nicht unternommenen Versuche, wachen Blickes die Impulse einer Stadt zu erfassen, deren Bewohner im Durchschnitt weit jünger sind als die anderer großer deutschen Städte. In der etwas gehen könnte.
Manche von ihnen — man bleibt inzwischen aus finanziellen Gründen am Wochenende hier — legen ein beängstigendes, großstädterisches Sendungsbewußtsein an den Tag und setzen es mit glühendem Eifer in die Tat um. Erinnern wir uns der frühimperialen Konnotationen, die der Begriff Sendungsbewußtsein mit sich bringt!
Berliner Migranten
Ich stehe dem Transfer, bzw. dem Import von (sub)kulturellen Ideensammlungen überhaupt nicht ablehnend gegenüber, es sollte dabei bloß auch ein Blick auf lokale Strukturen unternommen werden. Deren Verständnis erleichtert mitunter das Verstehen bestimmter lokaler Prozesse und Funktionsweisen. Alles in allem geht es hier also um das Ärgernis mit den StudentInnen, die gerade aus einer großen Stadt nach Greifswald emigriert sind und hier nicht richtig ankommen.
Die Verwendung des Migrationsbegriffes mag an dieser Stelle vielleicht etwas grotesk wirken, aber sie geschieht mit der Absicht, ein entwicklungspolitisches Phänomen auf unsere Stadt zu übertragen. Gemeint ist ein binnendeutscher Brain Drain. Mit dem Begriff Brain Drain bezeichnet man gemeinhin die Abwanderung von Fachkräften aus Entwicklungs- in Industrieländer, wobei letztere von der Ausbildung der ArbeiterInnen profitieren, die die Entwicklungsländer bezahlten.
Da Greifswald kaum Perspektiven für eine berufliche Zukunft bietet wird diese Stadt auch zukünftig nur schwer Anreize für ein längeres Verweilen vorweisen können. Die sich formelhaft wiederholenden Worte des Rektors werden so zur self-fulfilling prophecy. Man weint eben zweimal, weil das Weggehen, die Migration, schon vor dem eigentlichen Ankommen festzustehen scheint.
Alle müssen gehen, oder nicht?
Aber mangelt es denn hier wirklich an der Zielgruppe für die später an anderer Stelle verwirklichten Projekte, Start-ups und Ideen? Oder krankt das hiesige kulturelle Klima nicht vielmehr an der überall offenkundigen Perspektivarmut? Die letzte Frage zielt auf die Offenkundigkeit des Mangels an Perspektiven, nicht auf den Mangel als solchen. Zugespitzt drückt sich dieser diabolische Kreis so aus: Man muss gehen, weil alle gehen und weil man geht, gehen alle.
Die Auflösung dieses Kreises sollte die Aufgabe nachhaltiger Strukturförderung sein und ich will diese Strukturen mit meinem trotzigen Entschluss stärken, eben nicht rüber zu machen, sondern den Platz in den Räumen, die sich zwischen Netzwerken und durch sie bilden, zum Atmen nutzen. In diesem Sinne muss ich mich hoffnungsvoll revidieren: Man bleibt, weil alle gehen und weil man bleibt, bleiben vielleicht auch andere.