Die Ostsee-Zeitung ließ heute einmal wieder eine dpa-Durchhalteparole im Netz verlauten, die sicher auch Eingang in die morgige Printausgabe finden wird. Der abschwungs- und wirtschaftskrisengebeutelten Seele ist es Balsam – wir sind jetzt nämlich nicht nur Fahrradhauptstadt sondern außerdem die kreativste (kreisfreie) Stadt Mecklenburg-Vorpommerns!
Greifswald kreativste Stadt in MV
Gewonnen hat diese bahnbrechende Erkenntnis das rheinländische Beratungsunternehmen agiplan. Genau genommen wird die Stadt Greifswald weder in der Pressemitteilung des Unternehmens noch in der veröffentlichten Studie auch nur erwähnt. Kein Wunder, denn unter die besten Zwanzig kam die Hansestadt in keiner der durch die drei Indizes Technologie, Talente und Toleranz bestimmten Disziplinen.
Aufbauend auf den Arbeiten des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard Florida sind demnach die wesentlichen Elemente der Wettbewerbsfähigkeit einer Region Technologiekompetenz und die Ausstattung mit Talenten, aber „erst ein tolerantes Milieu, das dem Einzelnen ermöglicht, seine Individualität mitunter abseits des Mainstreams auszuleben, sowie ein internationales Flair, führen dazu, dass eine Stadt ein urbanes Klima entwickelt, das kreative Menschen anzieht.“
Ein lebendiger Eindruck dieser toleranten Atmosphäre ist wahlweise und in regelmäßigen Abständen in den Leserbriefen der Lokalzeitung und in den Pressemitteilungen der Greifswalder CDU-Fraktion erhaschbar.
(Bild: Shutterstock)
Wir alle sind Kreative, irgendwie
Die von Florida sogenannte Kreative Klasse umfasst dabei nicht allein die kultur- und kreativwirtschaftlichen Erwerbstätigen, sondern alle kreativen Tätigkeiten im weitesten Sinn, also zum Beispiel auch Zahn- und Vermessungstechniker, Krankenversicherungsfachleute, Unternehmensberater, Rechtsvollstrecker, Polizeibedienstete, Krankengymnasten und Diätassistenten. Langsam wird die Schwemme der Kreativen nachvollziehbar.
Technologie und Talente ausblendend, soll an dieser Stelle insbesondere auf den Toleranz-Index etwas ausführlicher eingegangen werden. Er setzt sich gleichgewichtet aus dem – mit Daten der Künstlersozialkasse errechneten – Bohemian-Index (KSKler/Erwerbstätige) und einem Integrationsindex, welcher aus dem Ausländeranteil der Bevölkerung und den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien bei der Europawahl 2009 abgeleitet wurde, zusammen.
In den kreisfreien Städten wurde der Toleranzindex unter Einbezug eines Gay Index erneut berechnet. Dieser fließt zwar gleichberechtigt in die Rechnung ein, hat aber jenseits der geographischen Verteilung männlicher Homosexueller, die im sozialen Netzwerk GayRomeo angemeldet sind, keinerlei Aussagekraft.
Homohölle statt Gay-Community
All die Dinge, die nach Ansicht Floridas die Kreative Klasse zum Herzug beziehungsweise zum Hierbleiben bewegen könnten, sind in Greifswald mehr recht als schlecht – und dabei doch eher verkümmert als kümmerlich – ausgebildet. Die Kreativen wählen laut Florida ihren Wohnort:
„nicht mehr nur nach klassischen (ökonomischen) Gesichtspunkten. Sie ziehen dorthin, wo es ihnen individuell am besten gefällt. Sie schätzen z.B. Urbanität, vielfältiges (Sub-) Kulturangebot, Aufgeschlossenheit der Bevölkerung, Architektur, Cafés und Bars. Die Offenheit von Städten bildet sich in einer ausdifferenzierten Kreativ- und Kulturwirtschaft mit der dahinter stehenden Szene ebenso ab wie durch eine große Gay-Community und eine Stadtgesellschaft, in der sich Migranten Zuhause [sic!] fühlen dürfen.“
Erinnert sei an den früheren AStA-Referenten für Gleichstellung, Björn Reichel, der erst vor einem Vierteljahr den Journalisten der taz in die Notizblöcke sprach, dass Greifswald seine „kleine Homohölle“ sei, mit kleiner Szene und kaum vorhandener Homo-Kultur.
Von so etwas wie einer selbstbewussten Gay-Community kann hier also eigentlich gar keine Rede (mehr) sein, ebenso wenig wie von einer auch immer dahergeredeten Aufgeschlossenheit. Dies zeigt das folgende, schon etwas in die Jahre gekommene, Video, in dem einige Greifswalder zu gleichgeschlechtlicher Liebe Stellung beziehen.
Optimierung für den Wettbewerb
Nach Aussage der Studie reiche das Instrumentarium zur Optimierung des Toleranz-Index von der „Förderung kreativer Räume über die Verbesserung der Bildungsergebnisse benachteiligter Bevölkerungsgruppen insbesondere auch mit Migrationshintergrund, die Entschärfung sozialer Konflikte z.B. über Projekte der Sozialen Stadt bis zu städtebaulichen Maßnahmen, die die Urbanität und Aufenthaltsqualität stärken“.
Zur Anwendung dieser Instrumente wird es nicht kommen, soviel darf zur Beruhigung schon mal verraten werden. Zu erwarten ist; vielmehr, dass der kreativsten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns das gleiche Schicksal droht wie schon vorher dem Leuchtturm des Nordens und der Fahrradhauptstadt. Auf jedem geradelten Kilometer ist hier zu spüren, wie schlaff und wirkungslos die Tiger aus Papier sind, wie schmeichlerisch diese Titel erst die Pressemitteilungen und später unsere Lokalzeitung schmücken und wie sich trotzdem kaum etwas verändern mag. Denn jede diesbezügliche Wende setzt die Einsicht voraus, dass wir auf Platz 50 dümpeln und ausnahmsweise nicht die Nummer 1 sind.
Die veröffentlichte Studie mit dem Titel Kreative Klasse in Deutschland 2010 ist hier bei der agiplan GmbH, Mülheim an der Ruhr, als 40seitiges pdf-Dokument abrufbar.
Richard Florida ist der Mann, der die sogenannte „Kreative Klasse“ geschaffen hat. Er ist derjenige, der damit auch in Städten wie Hamburg die ganze Gentrifizierungsdebatte ins Rollen gebracht hat. Stadtkultur und Alternativszenen sind seiner Meinung nach Standortfaktoren, die im Wettbewerb der Städte untereinander wichtig sind. Mit der Konzentration auf die „Kreativen Klasse“ soll auch der Zuzug von Unternehmen und LeistungsträgerInnen der Wissensökonomie gefördert werden. Seine Kreativen sind ausschliesslich kommerziell orientiert. Da kann Greifswald meiner Meinung nach froh sein, wenn es nicht in seinem als kreativ gilt. Gentrifizierung braucht die Stadt nicht.
hattse aber schon…
Eine Stadt, die ihre Stromkästen weiß überstreichen lässt, weil diese über Nacht pink geworden sind, ist quasi der steingewordene Schmelztiegel jeglicher Kreativität!
Eine Stadt (wo es natürlich keine Nazis gibt, nie gegeben hat und nie geben wird) wo „Moslems raus“ und Hakenkreuze an öffentliche Gebäude gesprüht werden, ist natürlich so etwas wie das vorpommersche Neukölln.
Eine Stadt, in der Polizei und Behörden jegliche subkulturelle Bemühung im Keim ersticken, ist eigentlich die Wiege der Kunst des neuen Jahrtausends.
Eine Stadt, deren Uni noch heute nach Nazi-Ikonen benannt ist, bettelt förmlich um immer mehr internationale Kontakte und Gäste aus dem Ausland.
Kreative, bleibt bloß weg! Hier nimmt man euch die Luft zum Atmen, hier bleibt man lieber unter sich.
Unter den blinden ist der einarmige eben König. Wärend andere Städte arm aber sexy sind vergleicht sich man sich in mv lieber mit sich selbst. Nach dem Motto in Anklam ist es noch schlimmer. Zumindest im positiven Denken kann man der Stadt Kreativität nicht absprechen.
Danke für den aufklärenden Artikel und schöne Grüße aus Berlin
@daburna
Glaubt man der Lokalzeitung, zählen in dieser kleinbürgerlichen Stadt bereits die OZ-Anzeigenverkäuferin Steigel, der Wursthändler Kienast, die erste Nippes-Anbieterin der Stadt von der Tourismusinformation und die Taschenverkäuferin Struck nebst Lebensgefährten (OZ 30.08.) zu den lokalen Promis. Allesamt keine „Arbeiter“, die Florida unter der „Kreativen Klasse“ subsumiert.
Wirtschaftliches Handeln ist im Kapitalismus grundsätzlich immer kommerziell. Bei Florida ist das künstlerische Prekariat die Basis des Fundaments. Dort, wo sich dieses Prekariat signifikant ansiedelt, soll es besonders tolerant zugehen (Bohemien-, Gays-Index). Erst von diesem Klima sollen sich dann kommerziell orientierte Kreative, wie Designer, Architekten, Forscher, Ingenieure, Entwickler, Journalisten (OZ ausgenommen), Werber und andere wissensbasierte Berufe angezogen fühlen.
Wenn Wursthändler und Anzeigenverkäuferinnen in den lokalen Medien als Elite erwähnt werden, diejenigen die Florida als „Kreative Klasse“ bezeichnet hingegen nicht vorkommen, scheint die Gefahr der Gentrifizierung gebannt. Außerdem, welcher Stadtteil könnte denn noch gentrifiziert werden? Mir fallen da nur Schönwalde II oder Ostseeviertel Parkseite ein. 😉
Wenn King Arthur erfährt, dass nach Florida in USA die „Kreative Klasse“ (30%) bereits über 50% des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet, könnte vielleicht der Fortbestand des Theaters Vorpommern mit seinen Prekarianern in der bisherigen Form gesichert sein. Dann hätte dieses obskure Ranking immerhin etwas Gutes.
(dieser Index… baah!! Empirische Sozialforschung treibt oft ziemlich seltsame Blüten… sorry, musste ich ma loswerden)
mhh…polizei gehört zu den kreativen? weil sie neue und kreative wege finden leute abzuziehen und zu verhaun? is lol 😀
ne, weil kreativ=subversiv=unliebsam=polizei^^
jetz wo du es so sagst, j, muss ich dir einfach recht geben. wow.