Wer sich heute den Greifswalder Lokalteil der Ostsee-Zeitung zu Gemüte führte, hat die Lektüre hoffentlich ohne Angstschweiß hinter sich gebracht. Denn Angst geht ja angeblich gerade um und die Redakteure in der Bach-Straße spielen virtuos auf der Klaviatur der Verunsicherung.
Nachrichten aus dem Homo-Wald
Anfang April präsentierte man uns nach einem sehr schnell aufgeklärten Totschlag den „Homo-Wald“ hinter einem Rastplatz an der B96 und hätte sehr viel besser daran getan, zu hinterfragen, wieso sich Menschen in einer scheinbar freien Gesellschaft auf einsamen Parkplätzen treffen müssen, anstatt sich plakativ mit dem Verbrechen auseinanderzusetzen und sich in boulevardesken Wortschöpfungen zu ermüden.
Fragen nach schwulen Lebenswirklichkeiten vor Ort wurden aber nicht gestellt oder um es mit dem Regisseur Rosa von Praunheim zu sagen:
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“
Häufung von Gewaltattacken
In der heutigen Ausgabe geht es um eine „Gewaltattacke„. Wie die Polizei bekannt gab, wurden in der Nacht vom 17.04. zwei Männer auf dem Wall Höhe Rubenowstraße von drei räuberischen Erpressern mit gezogener Pistole zur Herausgabe ihrer Wertsachen gezwungen.
Die unter dem Einfluss von Alkohol und anderen Drogen stehenden Straftäter mit Wohnsitz in Demmin beziehungsweise Tutow wurden wenige Minuten später von der unmittelbar alarmierten Polizei gestellt und sitzen inzwischen in der JVA Stralsund. In ihrem Fahrzeug wurden „auch eine scharfe Waffe, eine Schreckschusspistole, eine Sturmhaube, vier schwarze Tücher sowie zwei Schlagstöcke“ sichergestellt (Pressemitteilung Polizei).
Doppelt so viele Raubüberfälle
Die treuen OZ-Leser wurden flugs mit einer furchteinflößenden Statistik konfrontiert: Die Zahl der Raubüberfälle hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, von 28 (2007) auf 58 (2009). Das Wachstum im Vergleich zum Vorjahr (2008: 52) fällt dagegen mit 11% schon bedeutend unspektakulärer aus.
„Immer wieder werden Menschen auf diesem Weg überfallen“ untertitelte die OZ ihr Foto. Dabei stellte sie in der Ausgabe des Vortages fest, dass es erst der „vierte Überfall in nur zwei Jahren“ war.
Ich finde das für eine Stadt mit circa 60.000 Einwohner eigentlich sehr beruhigend und denke, dass es wahrscheinlicher ist, beim nächsten Ostrock-Konzert auf dem Markt von einem angetrunkenen Mitvierziger verprügelt als Opfer einer räuberischen Erpressung auf dem Wall zu werden. Auch nächtliche Mensa-Besuche stellen ein wesentlich höheres Gefahrenpotential dar, denn wie die OZ weiß, „geschehe in der Hauptsache dort etwas, wo der Bär tobt„.
(Grafik: Jörg Röse-Oberreich)
Einer der sichersten Orte dieser Stadt?
Das traumatische Moment, mit gezückter Schusswaffe bedroht zu werden, ist schrecklich und die Betroffenen werden diese Nacht mit Sicherheit nicht so schnell vergessen. Angesichts der vorgelegten Berichte scheint mir jedoch der Greifswalder Wall einer der sichersten Orte dieser Stadt zu sein und wir alle sollten es tunlichst unterlassen, diesen Ort fortan zu meiden.
Die Saat für ein kollektives Unwohlsein ist jetzt allerdings gesät und wurde durch den Versuch der Ostsee-Zeitung genährt, ein Stimmungsbild der Lage einzuholen. Vier interviewte Bürger, deren Statements mit Angst vor allem im Dunkeln überschrieben waren, flankierten den Artikel über den Raubüberfall.
Da fürchtet sich die Seniorin vor den nächtlichen Rabauken und die beiden jungen Frauen entscheiden sich viel lieber für die beleuchteten Wege. Nur ein junger Mann ist furchtlos, denn es träfe doch meistens die Mädchen. Ob er wusste, dass sich unter den fünf Geschädigten in Sachen Raubüberfälle der zurückliegenden zwei Jahre nur eine Frau befand?
Flanieren auf dem Wall? Jetzt erst recht!
Wie geht es jetzt weiter? Natürlich genauso wie gehabt, denn eine Meidung des Walls bringt überhaupt nichts; im Schlimmstfall nur noch mehr Einsamkeit auf den beliebten Spazierwegen und damit bessere Bedingungen für neuerliche Überfälle. Nein, wir müssen jetzt erst recht dort joggen, flanieren und unsere Hunde ausführen gehen.
Greifswald ist eine sichere Adresse, das ist klar. Vier Überfälle in zwei Jahren in einer uneinsichtigen und schwach beleuchteten Gegend sind zwar schrecklich, aber verhältnismäßig wenig. Die Pistoleros des vergangenen Wochenendes wurden festgesetzt und sitzen erstmal hinter Gittern. Nun kann man nach vorne blicken und reagieren.
Eine Maßnahme zur Kollektivberuhigung wäre angebracht, zum Beispiel vorerst nachts auf dem Wall auf das Deaktivieren jeder zweiten Laterne zu verzichten, aber voreinander fürchten sollten wir uns nicht. In diesem Sinn: Nur Mut, Ausdauersportler, Gassigänger und Flaneure, die Wallanlagen warten auf euch!
(Foto: Maria-Friederike Schulze)
Mit reißerischen Überschriften lässt sich die Zeitung eben besser verkaufen 🙂
Ich für meinen Teil jogge weiterhin auf dem Wall – allerdings morgens. Wobei da eher weniger los ist als abends.
Sehr gut analysiert, danke!
Die Redaktion „hätte sehr viel besser daran getan, zu hinterfragen, wieso sich Menschen … auf einsamen Parkplätzen treffen müssen, anstatt sich plakativ mit dem Verbrechen auseinanderzusetzen und sich in boulevardesken Wortschöpfungen zu ermüden.“
(Vor allem dürften wohl etliche Leser ermüdet sein.)
Die Redaktion hat es nicht getan, weil die Redakteure es nicht können, nicht wollen und weil sie ahnungslos sind. Wenn sie wollten, könnten und Ahnung hätten, fehlte es ihnen an Zeit, es zu tun.
Ansonsten zeigt sich jetzt klar, was der Umstrukturierer Fischer bisher bewirkt hat: noch mehr Oberflächlichkeit, Geschreibsel, dass den Begriff „journalistischer Beitrag“ nicht verdient, Aufbauschen von nichts – kritischer Hochwertjournalismus nach Art des Hauses, sonst würde die Chefredaktion das Elend beenden.
@ juliaL49
Die OZ ist vor allem Abo-Zeitung. Sie muss nicht mit Krawalljournalismus Leserinteresse auf unterstem Niveau wecken, wie es die Kauf-Zeitung BILD an jedem Erscheinungstag tun muss.
Wer der BILD Konkurrenz machen will, hat schon verloren. Die OZ kann es nicht, die Redakteure in Greifswald erst recht nicht. Was die Greifswalder OZ jedoch damit bewirken könnte: Abonnenten verlieren.
Das sind kluge Worte. Die Ostsee-Zeitung, die sonst ja sehr „staatstreu“ ist, hat zudem als große Nachricht gemeldet, dass es diesen neuerlichen Überfall auf dem Wall gab und dann aber nur ganz bescheiden und dezent angemerkt, dass er binnen Stunden (!) vollständig aufgeklärt war. Meines Erachtens gehört diese Info in die Schlagzeile, denn Überfall hin oder her – das ist echt ’ne Leistung.
Diese Berichterstattung mag der OZ zwei sichere Aufmacher beschert haben, aber es wurde mal wieder eine langweilige Tatsache als Skandal präsentiert. Das konnte man in der Vergangenheit schon öfter beobachten, wenn der jetzige Redaktionsleiter irgendwas aufgedeckt haben wollte, was sich dann aber bei näherem Hinsehen als plumpe Plattitüde herausstellte. In diesem besonderen Fall ist die mit ihm verbundene Panikmache überdies noch verantwortungslos.
„lupe says:
April 22, 2010 at 8:43 am
Sehr gut analysiert, danke!
Die Redaktion “hätte sehr viel besser daran getan, zu hinterfragen, wieso sich Menschen … auf einsamen Parkplätzen treffen müssen, anstatt sich plakativ mit dem Verbrechen auseinanderzusetzen und sich in boulevardesken Wortschöpfungen zu ermüden.”
(Vor allem dürften wohl etliche Leser ermüdet sein.)
Die Redaktion hat es nicht getan, weil die Redakteure es nicht können, nicht wollen und weil sie ahnungslos sind. Wenn sie wollten, könnten und Ahnung hätten, fehlte es ihnen an Zeit, es zu tun.“
Schade, dass da ausser den üblichen Plattitüden nichts, aber auch garnichts, neues rauskommt…
Es gehört sicher zu Ihrem Leben sich ständig über die OZ auskotzen zu müssen allerdings ist es ganz witzig dabei dieselben Methoden zu benutzen für die die OZ kritisiert wird…
Oder haben sie der OZ nicht schon lange eine absolute Oberflächlichkeit bescheinigt..? Soll die Oberflächlichkeit jetzt absoluter sein oder bleibt oberflächlichkeit gleich oberflächlichkeit..?
Zum Thema bleibt zu sagen, dass dieser Parkplatz wohl eher historisch gewachsen ist und von den Schwulen [editiert und entdiskriminiert] selbst ausgesucht wurde…
Ein guter Freund von mir verkehrt dort regelmässig und auf die Frage W A R U M man sich D O R T zum schnellen Sex trifft gibt es wohl nur eine Antwort: Weil sie es wollen 🙂
„Ein guter Freund von mir verkehrt dort regelmässig und auf die Frage W A R U M man sich D O R T zum schnellen Sex trifft gibt es wohl nur eine Antwort: Weil sie es wollen“
Oder weil es einfach keinen anderen Ort gibt. Ich denke, dieses Cruising ist mit sehr viel mehr Risiken verbunden, als eine Begegnungsstätte mit dunklem Zimmerchen.
@ Martin
1. Natürlich ist Neues herausgekomen. Es ist jetzt klar, wohin strukturiert wird in der Greifswalder Redaktion.
2. Ich kotze mich nicht aus, sondern stelle fest.
3. Ich habe in einzelnen Fällen die OZ sogar gelobt, wenn die Gwd.-Redaktion nicht mit der OZ gleichgesetzt wird. Geschrieben hatte ich : „noch mehr Oberflächlichkeit“ und meinte damit noch mehr oberflächliche Texte. Ich habe nie festgestellt, die OZ veröffentliche ausschließlich oberflächliche Texte. Wäre es so, wäre mein Blog überflüssig. Es wäre jegliche Kritik an der OZ überflüssig, egal, von wem sie geäußert würde.
4. Damit ist auch etwas über die Methode geschrieben.
„Da fürchtet sich die Seniorin vor den nächtlichen Rabauken“
Hmm, Rabauke, Wall, „die Wallanlagen warten auf euch“ – mal schauen, was sich so in den nächsten Tagen zur sozialen Aufwertung des Walls ergibt 🙂
@Jockel -> Ich bin nun nicht der Experte in Sachen Parkplatzsex aber hier in HGW gibts wohl noch den Kuhstrand… Ansonsten gibts wohl in jeder belebteren Stadt solche Treffpunkte… Du willst doch wohl nicht andeuten, dass diese Plätze ungern benutzt werden weil es keine anderen Möglichkeiten gibt..? Dann frag doch mal die früheren und jetzigen Benutzer der Schwuli Sauna in HRO… Warum findest Du Schwuli eigentlich diskriminierend..? Schon seltsam diese politische Korrektivität! 😉 Ich meine wenn mein Schwuli Freund mich als alte Hete bezeichnet empfinde ich das auch nicht als diskriminierend… aber das ist ein anderes Thema…
Informiere Dich doch mal zum Thema… Du wirst feststellen, dass gerade die Schwulen Ihre Sexuelle Freiheit und (ja es gibt dort immernoch verheiratetete Männer) Revolution dort ausleben wollen wo es ihnen passt… Das ist viel öfter draussen als drinnen würde ich mal spekulieren …
Gemeint sind nicht die Benutzer sondern die Betreiber der Gay Sauna…
@Martinileini:
Da würde ich mal behaupten, dass du dich verspekuliert hast. Von meinen homosexuellen Bekannten hat noch keiner das Cruising-Angebot – weder in Greifswald noch in anderen Städten genutzt. Vielleicht ist deine Stichprobengröße für eine statistische Auswertung einfach zu klein?
Zu Deiner Begriffswahl: Unabhängig davon, wie man selbst genannt wird, sollte man in einer ernsthaften Diskussion nicht einen anerkannten Pejorativ benutzen, wenn man sich nicht selbst Vorurteile anlasten lassen will.
Außerdem ergibt dein vorletzter Satz semantisch wenig Sinn…
Auch wenn die Unterhaltung bisher nicht mir Dir geführt wurde so darfst Du herzlich gern daran teilnehmen liebste loki…
Hätte ich gewusst, dass ich an einer ernsthaften Diskussion teilnehme hätte ichs gelassen 🙂 Da dem nach wie vor nicht so ist bleibe ich bei schwulis und heten… weiss nicht wie ich sie in einer solchen Unterhaltung auseinanderhalten soll und für homosexuelle fehlt mir der Besenstiel im Arsch 😉 aber das verstehst Du wahrscheinlich eh nicht…
Und wenn Du Probleme hast meine Sätze zu verstehen musst Du das nicht hinter Wörtern wie „Semantik“ verbergen, frag mich einfach 🙂
Aber machs nicht so kompliziert sonst verstehts wieder keiner 🙂
Oder anders gesagt: Zähl doch mal wieviele Sätze mein Kommentar überhaupt enthielt… 🙂