Eine Kolumne von Ferdinand Fantastilius
PROLOG
Im Schnee hatten wir uns verlaufen und sangen gegen den Wind. „Wenn es so kalt ist, kann man keinen Schneemann bauen“, stellt irgendwer fröhlich fest und wirft sich zum Adlermachen hin. Heitere Leute schenken Glühwein aus und bunte, dreifach gewickelte Grobstrick-Schals wehen den Schlittschuhlaufenden auf dem Ententeich hinterher. Auch die Hunde freuen sich unterwegs zu sein und schauen ihrem dampfenden Atem nach. Wie er übers Land fliegt, das so unbekannt weiß jetzt plötzlich war.
Ein Angestellter in mittlerer Position räumt sein Büro für die Zeit zwischen den Jahren auf. Er würde gern einen Hut zum Trenchcoat tragen, wie Dick Tracy. Die fröhlichen Lachsalven der Lampionumzüge ziehen übers Land. Letzte Ladungen erreichen den Hafen, Lastwagen werden gelöscht. Als parallaktisch verrauschtes Zeitlupenscreening zieht Landschaft als Bildwirbel am Fenster entlang. Driving home for Christmas.
SÜßER DIE GLOCKEN NIE KLINGEN
So etwas und anderes schleicht einem ins Hirn, denkt man an vorweihnachtliche Besinnlichkeit in Filmreife. Schulchöre, Sternsinger, duftene Plätzchen; Charles Dickens, TV-Mehrteiler und Verdauungsschnäpse. Die Welt vermummt im Schnee. Im Dezember sind wir alle kleine Lords, blonde Mini-Milchgesichter im Rüschenhemd unterm Weihnachtsbaum.
(Foto: 17vier)
Die Realität sieht etwas anders aus: Endlich Weihnachten, endlich Zeit für Besinnungslosigkeit! Das ganze Jahr geschuftet, malocht und couchkartoffelt, da geht es jetzt — am Jahresende — nochmal richtig in die Vollen.
HOPPENSTEDTS UND HALLIGALLI
Es riecht nach Bratapfel, Zimt und den Magengeschwüren der eilig an einem vorbeihetzenden Weihnachtseinkäufler. In der Dompassage stolpern die Menschen mit Papiertüten bebeutelt die Rolltreppen rauf und runter. Mittendrin Sheriff Shopping-Mall und sein Chef-Schlüsselbund. Der Kaufhaus-Buddha mit dem Schnauzer.
In der Fußgängerzone haben sich Lamas, Esel und anderes Zottelgetier mit ihren Leinenhaltern postiert. In einer Seitenstraße versuchen Lama-Joe, Ziegen-Jack und Muli-Jim ihre trägen Viecher in einen rostigen Klein-Transporter zu bugsieren. Nach erfolgreicher Tierstapelung drängeln sie sich in der Fahrerkabine und wärmen ihre Hände in den klebrigen Pudelmützen. Noch ein Zigarillo und dann geht es endlich heim. An der letzten Biege noch einen Schnaps, und dann schlafen.
Währenddessen quält die One-Man-Ziehharmonium-Band an der Straßenecke jaulige Bing-Crosby-Interpretationen aus der Quetschkommode. Mit der Flötenfolklore des Flanierstraßen-Indianers vereinen sie sich zu einer öligen Kakophonie, die sich zähneziehend durch die Fußgängerzone hievt. Auf dem Marktplatz Budenwerk, Gaukelzauber und ausgemusterte Alt-Attraktionen vergangener Rummelzeiten.
Die Studenten saufen sich am Glühweinstand die Zungen fürs Callcenter geschmeidig. Daneben Rudolf, der rotnasige Quartalsalkoholiker, selig schwankend, sich die charakterfaltigen Hände am Jahrmarktbecher wärmend. Hin und wieder zottelt er einen Flachmann aus seiner Brusttasche und bezuschusst seinen Glühwein mit Hochprozentigem.
(Foto: 17vier)
ZIMTSTERNE UND ZANKÄPFEL
Für Jugendliche, diese drolligen Nachwuchs-Menschlein, ist der Weihnachtsmarkt in den Wochen seiner vorweihnachtlichen Innenstadtpräsenz ein beliebter Treffpunkt. Zwischen all den bunten Lichtern dieses gastierenden Kuriositätenkabinetts, werden neueste Erlebnisse zum Twittern erlebt, Beziehungsdramen ausgefochten, Kunstrosen am Schießstand geschossen und sich im Karussell ins Schleudertrauma befördert. Wie kleine Zwergenweltbesiedler wuseln ganze Horden von Picaldi-Hobbits mit ihren Fellkragen-Lolas unterm Arm über das Marktpflaster. Ihre wichtigtuerischen Telefonate und großspurigen Shake-Hands haben etwas Mafiöses. Oh, süßer Vogel Jugend, du malträtierter Marabu!
Zerrüttete Kleinfamilien schieben ihren Nachwuchs — zukünftige Unternehmensberater und U-Bahn-Schläger — übers winterliche Kiezcarré und lecken mit qualligen Zungen an blutroten Liebesäpfeln. Wenigstens einmal im Jahr was Obstliches! Mundfaule Rentner stoßen sich an gebackenen Mandeln ihre Zähne aus. In Zucker gegossene Liebeserklärungen prangen auf versteinerten Lebkuchenherzen. Kann man dieses ganze bunte Zeug überhaupt alles essen? Oder werden damit Brunnenmosaike gefertigt und Silvesterkarpfen erschlagen?
(Foto: Stadtkatze via Flickr)
Mittendrin im Weihnachtswahnsinn: Mutzen-Hubert. Der rosige Konditor wippt zufrieden in seinem Bratfett-Pavillon. Er ist hier der Meister des Glücksgebäcks, der Schmalzkuchenkönig frittierter Puderzuckerverheißungen. Regent und Herrscher über das kochende Siedefett.
Der Fahrgeschäftsbetreiber des Autoscooters gegenüber röchelt seine heiteren Anpreisungen herunter, als läse er Aktienkurse vor. Hereinspaziert, hereinspaziert. Hier ist jede Fahrt ein Unfall. Irgendwo in seinem bierigen Bariton funkelt noch dieser Schimmer, mit dem er sich damals beim Wettstreit der Conférenciers den glorreichen zweiten Platz erbrummte, mittlerweile jedoch entwurzelt vom jahrelangen Ansagen-Dauerfeuer als Master of Autoscooter-Ceremonies.
KRISE, KRACH UND KERZENSCHEIN
Die alljährliche Diskussion ums Riesenrad — Himmelsstürmer mit Metropolenflair oder doch nur greller Schandfleck im Stadtbild? — wurde in diesem Jahr zu seinen Ungunsten entschieden. Man hat sich mit dem Standardprogramm zufrieden zu geben. Es ist schließlich Krise. Da reicht auch eine klonkernd im Oval kreiselnde Mini-Eisenbahn. Der „Märchenland-Express“ dreht apathisch seine Runden, wie ein eingesperrtes Tier. Auch die anderen Fahrgeschäfte sind eher der Machart „Garagenfund“ zuzuordnen. Ein ungeölter Höllenfuhrpark aus quietschendem Sperrmüll. Die Bauschaumfassaden sind aufgejazzt mit welken Pappmaché-Pinups und Airbrush-Fantasien in Doll. Kommse alle ran, kommse alle rin. Wer will noch nicht, wer hat nochmal?
(Foto: 17vier)
Eine zentrale Aufgabe eines Weihnachtsmarktes scheint es zu sein, die Besinnlichkeit der Festwochen mit möglichst viel Krawall in einen allgegenwärtigen Sinnesterror umzukrempeln. Musikalisch weiß so ein Weihnachtsmarkt stets mit einem infernalischen Hit-Medley aus der Grabbelkiste zu begeistern. Die Soundanlage eines auffällig baufälligen Kinderkarrussels — von welchem Panzer wurde die eigentlich mal abgeschraubt? — torpediert hier jeden Ansatz von winterlicher Friedlichkeit mit Schlumpfentechno, Schlagerschranz und den Flippers. Wessen Geburt wird zum Heiligen Fest nochmal gefeiert? Die des Teufels?
FAHRERFLUCHT IM AUTOSCOOTER
„Endlich wieder Bumsen“ johlt einer kehlig aus dem Autoscooter. Mit übertrieben sportlichem Ehrgeiz rammt er alles, was ihm in die Quere kommt. Der Wagenanschieber — Schaustellerfamiliensohn in dritter Generation, eigentlich wäre er lieber Leuchtturmwärter — hat seine rechte Müh‘ dem Wildgewordenen auszuweichen. An der Decke dieses Destruction-Derby-Käfigs schlägt es schauerliche Funken. In der Billet-Kabine haut’s die Sicherungen raus. Ist das hier das Ende der Welt? Oder hat das Nachbarkarussell nur auf Warp-Geschwindigkeit geschaltet?
(Foto: 17vier via Flickr)
Egal. Der Wildgewordene ist inzwischen Wild geworden. Er pellt sich aus dem Wägelchen und schüttelt sich, dampfend wie ein brünftiger Hirsch. Speichel rinnt in den Kragen seiner gesteppten Allwetterjacke. Lose ziehen will er jetzt. „Jedes Los ein Gewinn“, verspricht die Losbude — ein aufgeklapptes Warenhaus aus Kuscheltieren, Schminkpuppen und Actionfiguren. Eine gigantische Wall-of-Schrott. Fünf Lose für Herrn Hirsch. Hastig entrollt er die Glücksscheine. Seine Ausbeute: Bleistift samt Anspitzer, frivoler Nackedei-Kugelschreiber, dellige Ping-Pong-Kelle und ein grapeliges Spielzeugirgendwas, wahrscheinlich eine Art Gremlin oder so.
Etwas verwirrt stopft er die Gewinne unter seine Jacke und wirft sich ins nächste Abenteuer. Das „Labyrinth“ soll es jetzt sein. Eine Mischform aus Tollhaus und Geisterbahn. In den Spaß-Spiegeln dieses stroboskopalen Psychedelik-Irrgartens auf LKW-Anhängergröße verzerrt sich seine Fratze zu einem seltsamen Gesicht. Ein Lichtshowgewitter wie im Pausenraum eines Waldferienlagers. Einem Hamster gleich, tapert er durch die „Rollende Tonne“. Gefangen in ewiger Rotation. Kein Juchee oder Jauchzen entflieht ihm. Sein Keuchen rasselt brockig. Er rennt und rollt um seine Freiheit. Vergnügung am laufenden Band sieht anders aus. Jetzt kesselt auch die Pumpe nur auf einem Kolben. Nächstes Jahr raucht er nur noch leichtere Zigaretten, nimmt er sich vor.
(Foto: 17vier)
Dann, endlich, hat er sich mit einem gewagten Hechtsprung aus der Tretmühle befreit. Seine Losbudenbeute kullert über die Pflastersteine. Die nackte Frau im Kugelschreiber schaut ihn fremdartig an. „Wie komm ich bloß nach Hause?“ fragt sich der Gestürzte. Nächstes Jahr macht er die Fahrerlaubnis, ganz sicher.
EPILOG
Aufgedunsene Botox-Gesichter stürzen sich von den Ski-Hügeln in Kitzbühel. Pelzkrägen schlottern im Fahrtwind. Hinter der nächsten Waldkurve steht schon der Frühling. Am Markt lösen die Schausteller die letzten Schrauben.
Plausch im Einkaufsgetümmel. Heißer Sanddorn auf dem Alternativweihnachtsmarkt. Wir gucken Leute und wärmen uns die Hände. Morgen fährt sie für lange Zeit weg. Das Jahr ist fast zu Ende.
Was soll mensch da noch hinzufügen?
Außer vielleicht: Wie hast Du es dort so lange ausgehalten, um Deine Beobachtungen zu betreiben?!
!!!
schonungslos und wunderschön geschrieben! heiligabend (von wegen… ). 🙂
Jahr für Jahr der gleiche Weihnachtsrummel inklusive kritischer Nachlese – wie lange wird es noch dauern diesen kulturellen Missstand ernsthaft abzustellen oder verbirgt sich dahinter womöglich noch ein Stück pommersches Brauchtum?
Großartig.