Gastbeitrag: Das Ostprinzip

Ein Gastbeitrag von Juliane Übensee

Vor zwei Jahren warb eine kleine Stadt im nordöstlichsten Zipfel der ehemaligen DDR, deren Namen man mit einem stillgelegten Kernkraftwerk in Verbindung bringt, junge Eltern an, vor allem junge Studenten: Kommen sie in die familienfreundliche Universitätsstadt, genießen sie individuelle Betreuung an einer der besten Universitäten, das Leben auf dem Land zwischen Kühen und romantischen Nebelfeldern, alten Eichen und einen Kindergartenplatz für ihr einjähriges Kind!

Dann kam der große Kabumm: weiter steigende Geburtenraten, viele neue Studenten mit Kindern und ein überlastetes Jugendamt. Die Lösung: der Personalschlüssel wurde von 16 auf 18 (!) erhöht, es folgte ein Aufnahmestopp für alle Kinder unter 3 Jahren. Die Eltern versuchten sich zu wehren, wendeten sich auf allen Wegen an die zuständigen Behörden, protestieren, sprachen zuletzt auf der Senatssitzung der Bürgerschaft im städtischen Rathaus vor und wurden von der Liste gestrichen. Stattdessen wurde und wird über eine futuristische Fahrradbrücke debattiert. Weil sie wichtiger ist? Günstiger?

Die Lütten nicht verwöhnen

Hier in der letzten Ecke der demokratischen Republik wird, wer nicht leise genug den Boden anstarrt und sich einredet, die Betonplatten seien das einzige Erbe der Diktaturen, ausgeschlossen aus dem demokratischen Recht. Welch Glück, dass man nicht mehr verfolgt wird?

(Foto: just.1972)

Im Herbst bläst der Wind hier rauer um die Ecken als Anderswo. Hier ist man halt nicht so kuschelig und fällt sich nicht gleich in die Arme. Nein, wir Norddeutschen sind Einzelmenschen. Ja, hier soll jeder selber zuschauen, wie er klarkommt. Fallen Erzieher aus Krankheitsgründen aus, ist es nicht Aufgabe der Stadt für Ersatz zu sorgen. Nein, da sollen die Einrichtungen schön selbst schauen wo sie bleiben. Und wenn dann eine Gruppe aus 27 Kindern besteht? Ja, dann werden die Lütten wenigstens nicht verwöhnt und es ist ja auch die Aufgabe der Erzieherinnen, oder nicht? Oder nicht?

Abzählen, anpassen, wegducken

Welche Vorstellung hat ein Anwalt, ein Richter, ein Firmeninhaber, der politische Kleinstadt Karriere macht, keine Familie hat, nie den Pfennig umgedreht hat, nie vollgekackten Windeln in der Hand hielt und kein Kindergeschrei kennt , von diesem Beruf? Von diesem Lebenszustand? Vom Kind sein? Damals, im Osten standen wir in Zweierreihen, wurden abgezählt. Entweder ist man aufgefallen oder man hat gelernt sich anzupassen, abzuducken.

Diesen Sommer ist viel passiert. Das neue KiföG wurde verabschiedet. Die Sozialministerin preist den neuen Betreuungsschlüssel an: Von nun an werden nur noch 17 Kinder durch eine Erzieherin zu betreuen sein! Welch Zeit! Welche Aufmerksamkeit! Welch individuelle Förderung! Ernst gemeinte Worte? Ernst genommene Sorgen?

Sprechen Erzieherinnen hinter der Hand, ohne Angst vor dem großem Ohr des Arbeitgebers, der mit der Kündigung droht und sie damit auf eines der rigidesten Arbeitsämter im Land loslässt, hört man enttäuschte Frauen, die eine Aufgabe zu bewältigen versuchen, deren gesellschaftlicher Wert kaum gemessen werden kann. Migrationshintergrund, Verhaltensauffälligkeit, Allergiker, sozial schwache Familien. Und davon nicht jeweils eins, nein mindestens zwei Kinder in jeder Gruppe.

Kleinere Gruppen, ja, das wünschen wir uns seit wir hier arbeiten. Das wir mehr Zeit für die Kinder haben, ganz anders auf sie eingehen können. Beim Geld schweigen sie lieber gleich ganz und schauen auf den Boden. Vielleicht denken an sie den Satz ihres Arbeitgebers: „Sie können ja dann schon Mal Sozialhilfe beantragen“. Nein, nicht nach der Kündigung, sondern nachdem der Vertrag für die Halbtagsstelle abgeschlossen wurde.

Viele Kinder — wenig Lohn

Ein weiteres großes Problem dieser feinpolierten Saubermannstadt, in der auf Privatgrundstücken verklärte, durch Steuergelder finanzierte Ehrendenkmäler ehemaliger Romantiker zur Erbauung des touristischen Gemütes errichtet werden: Die Löhne sind im bundesweiten Durchschnitt an der Untergrenze, die Arbeitsbelastung jedoch teilweise doppelt so hoch:

Im Westen dieses Landes sind es acht bis neun Kinder für eine Erzieherin, in Brandenburg mittlerweile zwölf. Denn dort hatte eine Bürgerinitiative Unterschriften gesammelt und genügend Druck ausgeübt. Es folgte ein günstiges Wahlergebnis für die Kindergärten und Eltern. Sind es also die Eltern, die sich alles und zu vieles Gefallen lassen? Sich nicht zur Wehr setzten und für die Belange ihrer Kinder einstehen? Oder sind es die Erzieherinnen, die im Sommer 2009 als einzige im Land brav mit gefalteten Händen auf den Innenhöfen der Kindergärten standen, während deren Kolleginnen im restlichen Land für bessere Arbeitsbedingungen und Lohntarife auf die Straße gingen?

Liegt es an den Mitarbeitern des Jugendamtes, die sich nicht trauen, die Anweisungen ihrer Arbeitgeber öffentlich zu kritisieren? Während der schwarze Peter die Runde macht, bleibt zwischen den Betonplatten eines sichtbar: Der Schatten der Scham. Der betretene Blick nach unten, die hochgezogenen Schultern, das Zucken um die Mundwinkel. All das erinnert an die Kinder, die damals in Zweierreihen standen und Angst davor hatten aufzufallen. Angst davor hatten, den eigenen Name laut zu hören.

(Foto: Kevin Neitzel)

Das Scham-Prinzip

Auch das geschah diesen Sommer: Es wurde bekannt, daß die Firma BauBecon die Unterschrift des amtierenden Oberbürgermeisters fälschte und damit Steuergelder hinterzog. Und es wurde bekannt, dass diese Fälschungen von Seiten des Rathauses nicht nur geduldet, sondern gefördert wurden. Schämt sich einer dieser Menschen? Nein.

Was bei all dem bleibt ist eine saubergeleckte Universitätsstadt, deren Studenten um die letzten geisteswissenschaftlichen Fächer kämpfen. Denn hier braucht man niemanden, der denkt. Hier braucht es Geld und das wird dringend für die Verbesserung der Bedingungen in den Kindertagesstätten benötigt.

Was bleibt sind die sinkende Touristenzahlen und der unsichere Wirtschaftsstandort. Und was kommt ist die nächste Generation von Erwachsenen, die auf den Boden schaut; das Prinzip der Scham und des Beschämens fortsetzt.

7 Gedanken zu „Gastbeitrag: Das Ostprinzip

  1. Der Artikel ist spitze……bei ner Unterschriftenaktion uä. wär ich sofort dabei…ich bin auch dafür….das eine/R ErzieherIn für fünf bis max. 6 Kinder angemessen ist…und nix anderes….Dieser Staat und seine Macher sind einfach feige unfertige Stümper, denen man am liebsten die Pest an den Hals wünschen könnte….hexhex…..der eenzige Trost….das jede/R Mensch irgendwann Zahltag hat….ob es was nützt … ick hoffe es sehr…..

  2. ebenfalls mein beileid…bei der ost/westgegenüberstellung musste ich auch die stirn runzeln. es mag einiges schief laufen in hgw, trotzdem: der artikel ist derbe unsachlich!

  3. Danke für die kritik.
    Welcher Teil genau ist unsachlich?

    Vielleicht entspringt das ost prinzip meiner Phantasie.. aber merkwürdig ist es schon, dass in Sachsen, Sachsenanhalt, Mecklenburg und bis vor kurzem auch in brandenburg mit einem betreuungsschlüssel in staatlichen kindergärten gearbeitet wird/ wurde, mit dem sich im „Kindergartenalltag“ herzlich wenig „neue“ konzepte umgesetzt werden können.
    Die Stagnation im Handeln kann ich mir leider nur mit diesem historischen Rekurs erklären.
    Wie seht ihr das denn n. und martin?

  4. … es gibt sicher Missstände, jedoch nicht nur im Bereich der (staatlichen) Kindertagesstätten und deren Betreuungspraxis, welche vielleicht zum Teil auch Resultate veralteter Konzepte sind. Ich finde jedoch, dass gerade nach der Wende in ostdeutschen Kleinstädten (und um die geht es der Autorin ja) von der Möglichkeit der Initiativgründung von Seiten der Eltern sowie auch der Erzieher nicht Abstand gehalten wurde. Ich kann hier nur auf den Kinderladen (als mir bekannte Einrichtung) verweisen, der sicherlich „nur“ 27 Plätze zu Verfügung stellt, jedoch nicht die einzige „alternative“ Einrichtung Greifswalds ist! Und dort werden mit Sicherheit (neue) Erkenntnisse aller Bereiche (Genderforschung, Frühförderung e c t ) in die Gestaltung des Betreuungsangebotes aufgenommen und umgesetzt.
    Wir (Eltern) sollten finde ich diesen „Erziehungsauftrag“ mehr selbst in die Hand nehmen, an statt über Erziehungsmethoden, die ja hier wirklich unsachlich und ohne jegliche Quellenangabe angeführt werden, zu debattieren. Wer die Wahl hat, hat die Qual, vielleicht ist es so. Aber ich kann nur sagen, mehr Energie fürs eigene Kind und Initiativen gründen schadet nicht. Denn wer schreibt mir (heute noch) vor wo und von wem ich mein Kind betreuen lasse? Alles eine Frage der Eigeninitiative, heutzutage, und das ist auch gut so. und jetzt bitte nicht mangelnde finanzielle Mittel oder Zeitnot anführen. Für Kinder entscheidet man sich schließlich auch….

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