Die Statistikstelle der Stadt hat neue Zahlen veröffentlicht und weil auch demografische Nachrichten gute Nachrichten seien können, soll ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung Greifswalds, die Bedeutung der Universität und zwei statistische Kuriositäten der sogenannten Vierteljahreszahlen geworfen werden.
Greifswald wächst im Schneckentempo
Das Bevölkerungswachstum der Hansestadt ist seit sechs Jahren ungebrochen und die Stadt bejubelt diese Entwicklung in einer optimistischen Pressemitteilung, die Hoffnung und Zuversicht versprüht. Im Jahr 2004 schrumpelte Greifswald im Abwärtstrend des zurückliegenden Jahrdutzends auf den Negativrekord von nur noch knapp über 52.000 Einwohnern zu.
Nüchtern betrachtet sind heute exakt 1971 Menschen mehr als damals mit ihrem Hauptwohnsitz in Greifswald gemeldet — der durchschnittliche jährliche Zuwachs liegt also bei ungefähr 330 Einwohnerinnen pro Jahr. Diese Zahl entspricht auch in etwa der jährlichen Schrumpfung ostvorpommerscher Kleinstädte wie Anklam, Wolgast oder Demmin, die seit zwanzig Jahren demografisch in sich zusammensacken.
Nachbarstädte auf Schrumpelkurs
In den sechs Jahren zwischen 1992 und 1998 sank die Zahl der hauptwohnsitzlich gemeldeten Greifswalder um mehr als 7000. Das Wachstum ist also ein zartes Pflänzchen, denn hierorts schrumpfen die Städte schneller als sie wieder wachsen. In der Nachbarstadt Stralsund, die 1990 noch über 70.000 Einwohnerinnen zählte, hat sich eine demografische Wende, wie sie für das Greifswald der vergangenen sechs Jahre beobachtbar ist, nicht eingestellt. Hier ist das Bevölkerungswachstum seit nunmehr zwei Jahrzehnten negativer Natur.
Grundsätzlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass leichte Abweichungen zwischen den Daten des statistischen Landesamtes und denen der Greifswalder Statistikstelle vorliegen. Letztere bezieht außerdem die gemeldeten Nebenwohnsitzler in die Berechnung der Gesamteinwohnerschaft mit ein.
Wächst die Stadt nach außen oder innen?
In der Pressemitteilung der Stadt wird Greifswald ganz euphorisch ein „Geburtenboom“ attestiert. Im vergangenen Jahr wurden 543 Kinder geboren, ein Höchstwert seit immerhin fast 20 Jahren. Allerdings ist die Zahl der Geburten auch mit den Gestorbenen eng verbunden. Dieses Verhältnis ergibt für 2010 ein negatives Bevölkerungswachstum von 52 Personen; im Statistikdeutsch spricht man hierbei vom Gestorbenenüberschuss.
Da das reproduktive Potenzial der Stadt für ein üppiges Bevölkerungswachstum offensichtlich nicht ausreicht, müssen andere Ursachen diese Entwicklung erklären, beispielsweise die steigenden Studierendenzahlen an der örtlichen Universität. Vergleicht man beispielsweise den Zuwachs der jährlichen Immatrikulationen mit dem Zuwachs der Einwohnerschaft im Zeitraum 2004 bis 2010, so stellt man fest, dass die Zahl der Studierenden um 1836 gestiegen ist, während die Greifswalder Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 1971 Bewohnerinnen wuchs.
Die demografische und ökonomische Bedeutung der Greifswalder Volluniversität kann vor diesem Hintergrund gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Umso energischer müssten die Stadt und ihre Bewohner auch für „ihre“ Studierenden eintreten und sich beispielsweise auch langfristig für den Erhalt der Lehrerausbildung stark machen.
An dieser Stelle sei ein Blick auf die von der Statistikstelle der Stadt herausgegebene Bevölkerungsprognose (Stand: Dezember 2009) empfohlen, in dem drei Szenarien vorgestellt werden, die die demografische Entwicklung Greifswalds bis 2020 in einem optimistischen (57.877 EW), einem realistischen (51.500 EW) und einem pessimistischen (47.213 EW) Verlauf skizzieren. Entscheidend ist der Prognose zufolge die Fähigkeit der Universität, das durch den Geburtenrückgang der 1990er Jahre bedingte, fehlende Zuzugspotenzial aus den neuen Bundesländern kompensieren zu können.
Die Zahlen geben darüber hinaus Hinweise darauf, dass sehr viele Studierende nicht in Greifswald gemeldet sind. Dabei ist der Greifswalder Hauptwohnsitz mit einigen Vorteilen verbunden, wie zum Beispiel der einmaligen „Umzugsbeihilfe“ von 150 Euro oder den mit dem so erlangten Wahlrecht verbundenen, bescheidenen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Darüber, wie das funktioniert, wird hier von offizieller Seite informiert.
Arbeitslosenbestand & Bibliotheksbesucher: die Vierteljahreszahlen
Die quartalsweise veröffentlichten Vierteljahreszahlen glänzen an mehreren Stellen durch Absurdität. In der Rubrik Wirtschaft/Arbeitsmarkt wird zum Beispiel der „Bestand an Arbeitslosen“ aufgeführt. In dieser Kategorie wurden im letzten Quartal 2010 über 3000 Menschen aufgeführt. Zum Vergleich: zehn Jahre zuvor waren noch über 5000 Greifswalder arbeitslos gemeldet.
Wie groß die Anzahl der neu entstandenen Arbeitsplätze nun aber wirklich ausfiel, darüber kann die Statistik keine Auskunft geben. Der wohl wichtigste Grund dafür ist, dass für diese Angaben auf Daten der Bundesagentur für Arbeit zurückgegriffen wurde. Diese wurde in den vergangenen Jahren immer wieder dafür kritisiert, viele Erwerbslose systematisch aus der Statistik und in äußerst fragwürdige Beschäftigungsverhältnisse zu drängen und gedrängt zu haben.
(Wie rabiat die Greifswalder ARGE zum Teil vorgeht, beschreibt zum Beispiel immer wieder Gregor Kochhan auf dem Blog der Grünen in der Kategorie Sozialpolitik.)
Verändertes Nutzungsverhalten in der Stadtbibliothek
Zur Diskussion über kulturelle Veränderungen lädt auch ein Vergleich des Datenmaterials der Stadtbibliothek ein. Dort wurden 2001 noch etwa 60.000 Besuche mehr gezählt als 2010. Und auch der Anteil von Büchern und Zeitschriften an den Gesamtentleihungen fiel von 61,5% auf 51,1%. Hier spiegeln sich Veränderungen im Nutzungsverhalten und Bedeutungsverschiebungen einzelner Medien wider, aber auch ein höherer Anteil des audio-visuellen Bestands.
Grundsätzlich sind all diese angeführten Statistiken natürlich mit Vorsicht zu genießen und ihre Erklärungsmacht ist häufig sehr begrenzt. Hinzu kommt, dass die Daten nur bedingt vergleichbar sind, weil zum Beispiel — wie im Fall der Studierendenzählart an der Universität — methodische Änderungen vorgenommen wurden oder administrative Neuregelungen geschehen sind.
Fakt ist jedoch, dass die demografischen Veränderungsprozesse auch vor Greifswald nicht Halt machen werden und große Anstrengung auf vielen Gebieten nötig sein werden, damit sich die Stadt in Richtung des optimistischen Szenarios entwickeln wird.
Die Daten des statistischen Landesamtes sind hier abrufbar. Die Greifswalder Vierteljahreszahlen werden seit 2000 auf der Internetseite der Stadt Greifswald veröffentlicht. Auf Nachfrage werden auch weitere Statistiken, wie zum Beispiel eine nach Stadtteilen aufgeschlüsselte Übersicht der Einwohnerzahl und der Altersstruktur, ausgehändigt. Die angesprochene Bevölkerungsprognose ist hier als pdf-Dokument zu finden.
Sehr guter, informativer Bericht. Respekt für diesen Aufwand! Die analytische, hniterfragende Betrachtung find ich ja mal so richtig gelungen. Besonders, dass du die Zahl der „Zuwachsraten“ mit der Zahl der Abwanderungen aus dem Umland egalisierst … find ich interessant. Dieser Gestorbenenüberschuss ist überall im Lande so, glaub ich.
„… . Letztere bezieht außerdem die gemeldeten Nebenwohnsitzler in die Berechnung der Gesamteinwohnerschaft mit ein.“
Hast sehr schick verpackt … den Pranger.
„im Zeitraum 2004 bis 2010,… dass die Zahl der Studierenden um 1836 gestiegen ist, während die Greifswalder Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 1971 Bewohnerinnen wuchs.“
Also wenn man diesen spektakulären Bevölkerungszuwachs von 1971 Personen in ein völligst losgelöstes Verhältnis (Käseglocke) setzen würde zum Studentenstadt-Status, hieße das über den Daumen gepeilt: von 2004 bis 2010 sei jeder zehnte Student in Greifswald geblieben. Das wäre doch die richtig fette Zahl, die zur Schönfärberei geeignet ist. Naja, kommt ja vielleicht noch.
Jedenfalls, (mein) Prädikat: Besonders lesenswert.
PS:
auch gut, extrem umfangreich und interessant, aber leider der Aktualität
etwas(!) hinterher hinkend.
http://tinyurl.com/634m7yt
Danke für die lobenden Worte. Nur eine Kleinigkeit will ich noch unterstreichen: „Hast sehr schick verpackt … den Pranger.“
Ich wollte die Statistikstelle der Stadt in keinster Weise an den Pranger stellen. Kritikwürdig ist höchstens, dass es einiges an Aufwand bedarf, an diese Daten zu kommen, die könnten auch online zur Verfügung gestellt werden. Ansonsten unterscheiden sich die Daten des stat. Landesamtes von denen der Greifswalder Statistikstelle ein wenig, aber nicht erheblich.