Am 8. April las Lutz Seiler im Pommerschen Landesmuseum aus seinem, von Beifall und der Krönung mit dem Deutschen Buchpreis umspülten, ersten Roman „Kruso“. Kulisse und Rahmen war die derzeit dort laufende Ausstellung Zwei Männer — ein Meer: Pechstein und Schmidt-Rottluff an der Ostsee.
Nahe liegt es allemal: die Ausstellung zeigt Werke der beiden Expressionisten, die mit ihrer malerischen Liebe zum Meer einen ähnlich zwingenden Bezug zur Ostsee haben wie der im kleinen Kosmos der Saisonkräfte Hiddensees angesiedelte Roman Kruso. Nicht zuletzt basiert Seilers Buch mit seiner Bezugnahme zu Robinson Crusoe, im Kern auch auf der Beziehung zwischen zwei Menschen – dort: Freitag und Robinson, hier: der Protagonist Ed und sein Freund Kruso.
Ein Leseerlebnisbericht von Martin Hiller
Die von Prof. Dr. Eckhard Schumacher moderierte Lesung bot sowohl dem eingeweihten, als auch dem in der Sache dieses Romans noch unbelesenen Publikum auf- und anschlussreiche Einblicke. In zwei Blöcken, an die sich jeweils eine Interviewsituation mit Prof. Schumacher anschloss, las Lutz Seiler erst aus dem Anfang, dann aus dem hinteren Teil des Buches. Aus dem von ihm so genannten „Hauptteil“ las er nicht. Das tat dem Bann, den seine dichte Sprache auslöst, keinerlei Abbruch.
Kruso ist so ein Buch, das einen in seinem Umfangreichtum – gesotten in Recherche, Erfahrung und schriftstellerischem Handwerk – für eine gute Weile einnimmt, sich in die Welt des Lesers hineinwirkt und jene im Licht seines literarischen Tons neu glänzen lässt: Ein Buch, in dem es sich ein gutes Leseleben führen lässt, dessen metaphernreiche Sprache einem mit der Zeit heimlich auch auf die eigene Zunge schleicht; ein Roman, der mehr ist, als nur eine genüssliche Insellektüre auf dem Nachttischchen. Man muss sich hier erlauben, zu sagen: ein Roman wie eine Insel.
Künstler, Punks und Steilküstenschlenderer
Kruso faltet sein Geschehen über knapp 500 Seiten auf der Insel Hiddensee auf. Hiddensee – das ist die Insel der Tagestouristen, Steilküstenschlenderer und vom Inselwetter ganz wonnig gewordenen Gaststätteneinkehrer. Dieses sanddornsatte Eiland mit der Form eines Seepferdchens war zu DDR-Zeiten aber auch Künstlerkolonie und Sommerresidenz der Republik-Punks, die halbnackt und besoffen ums Strandfeuer kajohlten. Am obersten Ostrand der Republik, mit der weiten See unterm Kinn und dem gegenüberliegenden Dänemark vor der Nase, schlug auch damals schon das Fernweh zwei Gänge höher in der Brust – war es auf dem Festland doch eher verhältnismäßig eingezäumt. Ein süßer Duft von Aufbruch und eine milde Ahnung von Anarchie umfloren auch heute noch die Verheißung dieser, wenn nicht gar jeder Insel.
Einen meiner schönsten Urlaube verbrachte ich auf Hiddensee: Grippekrank und mit Fieber zwar (im Leuchtturmwärterquartier), zu nichts in der Lage, aber doch ohne schlimmere Nöte – während draußen der Herbstniesel eine, nur der Nebensaison eigene, regnerische Ruhe über das abendliche Schnattern im nahegelegenen Vogelschutzgebiet ausbreitete. Danach war ich für eine gute Weile erst mal wieder gesund.
Weggehen als Vorgehen
Auch der Protagonist in Kruso durchwandert im ersten Verlauf des Romans, wenn man so will, eine Art der Gesundung — jedenfalls, wenn man die Sehnsucht als Krankheit und den Aufbruch und das Ausbrechen aus den Verhältnissen (ob nun politisch oder innerlich) als den ersten, leisen Schritt zur Linderung sieht. Es geht um die alte Fregatte Sehnsucht, die hinter der Brust ihre Segel auftakelt und mal stärkeren, mal spärlicheren Winden ausgesetzt ist. Es geht um ein Sehnen und Suchen nach Freiheit. Als typischer Roman der Wendezeit, der seine Charaktere in ein Wechselbad von Gefühlen und Möglichkeiten aufbrechender Grenzen wirft, möchte Kruso jedoch nicht gelesen werden.
Zuvorderst geht es hier um das flüchtige Gefühl von innerer Freiheit – einen Zustand des Gelöstseins, den auch die wackersten Herzen nicht auf Dauer festhalten können, dem es deshalb ständig gilt, ein bisschen nachzureisen — ein Woandershingehen ist also nicht verkehrt. Der Reiz des Abenteuers liegt zu einem gerüttelten Maß ja auch im schlicht Andersartigen, Nicht-Alltäglichen, am Verlassen allzu oft gelatschter Pfade. Gleich das ganze Festland hinter sich zu lassen ist – was das eigene Weggehen betrifft – hierbei ein denkbar konsequentes Vorgehen.
Robinsonade und Entwicklungsroman
Seilers Kruso setzt im Jahr 1989 ein. Der Protagonist Edgar Bendler, kurz Ed, verlässt die Stadt Halle und landet – für einige Nächte ohne Unterkunft, am Strand unterm Dornbusch nächtigend – auf der Insel Hiddensee. Hier beginnt diese Robinsonade. Dann spült es Ed langsam in die innere Welt dieser Insel. Als Leser strömt und plätschert man mit. Der Aussteiger Ed trifft als Saisonarbeiter in der Waldgaststätte „Zum Klausner“ auf weitere Inselbewohner und beginnt mit einem von ihnen, Kruso, eine zärtliche Freundschaft.
All dies bildet den besagten „Hauptteil“ dieses Buches, dem es nicht an Vorschusslorbeeren mangelt. Ein milder Hype, ein richtiges Kruso-Kribbeln weht diesem Debutroman von Lutz Seiler voraus: Alle reden davon, manche meinen, es sei ein irgendwie verstiegenes, gar schwieriges Buch, andere heben Seilers handwerkliche Schule in seiner bisher veröffentlichten Lyrik hervor. Man kommt um den Kruso nicht herum. Aus den Hemdkragen der Feuilletonisten dampfen Lob und Anerkennung, hinter den Schläfen der Leserkommentareschreiber puckert ein Wechsel von Euphorie und Empörung, über die scheinbar hohe Zutrittsschwelle zur Lektüre dieses liebevollen, vielschichtigen, doch nicht verqueren Aussteigerbuches, das sich auch als Roman der Entwicklung eines Gestrandeten lesen lässt.
„Und was machst du so?“ – „Ich les Kruso!“
Mit der Aura eines Abenteuerromans und seinem losen Leitmotiv des Ausbruchs spricht Kruso grundinnerste Begehren an. Schon Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ lebte von diesem Reiz der Geschichte eines schiffbrüchigen Abenteurers – fern von den Zwängen der Verhältnisse des Festlands, paradoxerweise aber doch eingeschlossen im Meer. Das Schiff, das einem unterm Hintern wegbricht, hat seinen Rumpf am Ende eben doch im Menschen selbst: Man nimmt sich schließlich überall auch selbst mit hin. Defoes Ur-Robinsonade setzt Lutz Seiler ganz bewusst als Bezugspunkt, betont – darauf von Eckhard Schumacher angesprochen – jedoch, dass es sich bei seinem Werk vielmehr um eine „umgekehrte Robinsonade“ handle. In seinem Kruso ist der Protagonist über weite Strecken einer von vielen in der eingeschworenen Gemeinschaft der auf Hiddensee übersommernden Aussteiger, am Ende jedoch ist er wahrscheinlich allein.
Auch wenn das Setting des Romans im Milieu der Inselindividualisten zuerst überschaubar abgesteckt erscheinen mag: Die Komplexität im kleinen Mikrokosmos der Waldgaststätte „Zum Klausner“ und die Sinnlichkeit, die der Autor in ihren Aufbau legt, machten die Lesemöglichkeiten ebenso universell.
Hier schreibt einer, der weiß, wie man liest.
Lutz Seiler baut und setzt die Welt dieser Übersommerer in seinem Roman in formbewusster Detailliebe zusammen. Hier liegt das schreiberische Geschick Seilers: Jede Ausschweifung in verschlungene Beschreibungen der Inselwelt Hiddensees und der Kellnerwelt des „Klausners“ samt ihrer „Poetik des Abwaschs“, jede weitere Ausstaffierung der Wesenszüge seiner Romanfiguren ist nicht bloße Handwerkshudelei, sondern formt den Vorangang des Buches. Dieser stellt sich als pulsierendes, konzentrisches Ausbreiten des Universums im „Klausner“ dar. Seine Belegschaft schuftet darin wie im Inneren einer schnaubenden Galeere. Der Autor bedient sich in diesen Schilderungen, neben einem unendlichen Fundus an den Dingen der Natur, auch vieler semantischer Äcker aus der Historie, insbesondere der Sklaverei. All das offenbart schließlich aber Momente des Sichbefreiens. Ed arbeitet sich in seinem meditativen Tellerwäschertakt „durch bis auf den stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung“, auf dem er vom Aussteiger endlich wieder zum Aushalter seines eigenen Lebens wird, denn „für diese Stunden fühlte er sich rein, erlöst von sich selbst und seinem Unglück.“
So naheliegend manches Bild hier zuerst erscheinen mag, so kohärent ist am Ende das Wesen dieser Geschichte. Die Sprache ist kunstvoll, der Ort überschaubar, die Struktur manchmal ausufernd, dann wieder prägnant im Timing und seinen Leerstellen. Jeder Charakter bevölkert, belebt und bewirkt diese literarische Welt mit seiner dramaturgischen Chemie. Neben den tapferen Gefährten Ed und Kruso gibt es – den Rittern der Tafelrunde nicht unähnlich – zwei kräftige Hände voll weiterer Charaktere. Auch gibt es einen verwesenden Fuchs, mit dem Ed (Selbst)gespräche führt, dem er sich mit seinen Geheimnissen anvertraut – ein literarischer Kniff Seilers. Und es gibt natürlich das Meer. Seine Symbolkraft erstreckt sich über die komplette Skala vom Drang nach Freiheit bis zum Tod, der manche ereilte, die die Flucht über die Ostsee wagten. Dort schlägt Seilers Roman dann dunklere, aber nicht minder bildreiche Klänge an.
Mikrokosmos im Meer
Hier schreibt einer, der weiß, wie man liest. Als Leser fließt man irgendwann durch das Buch. Der sprachliche Bau, das durch die Figur des Kruso hineingewebte Utopistische und manchmal märchenhaft Anmutende, verflüssigen sich zu einem Strom, dem man als Leser gerne in seinem Suchen nach so etwas wie Freiheit folgt. Ob und welche Idee oder Form von Freiheit Ed in Kruso letztlich findet, bleibt am Ende nebenrangig, denn der Ton von Seilers Sprache macht hier die Musik und der Weg durch die im Lesen breiter werdende Tiefe dieses mächtigen Romans ist das Ziel.
Ob Facetten von Aljoscha Rompe, dem verstorbenen Sänger von Feeling B, Eingang in den Roman gefunden hätten, fragt eine — offensichtlich in den Dingen des DDR-Punk beflissene — Frau aus dem Publikum am Ende der Lesung im Landesmuseum. Lutz Seiler bejaht und die Rede kommt von Rompe, dem Guru der Hiddenseeaussteiger, zu Christian „Flake“ Lorenz, der früher als Grünschnabel bei Feeling B und heute als Teil der kunstsinnigen Groteskrockband Rammstein die Tasteninstrumente bedient. Auch er hat jüngst einen Roman veröffentlicht. Doch das ist eine andere Geschichte. Aber auch sie spielt auf Hiddensee.
- Lutz Seiler, Kruso (Suhrkamp 2014, bei Amazon als Buch, Kindle-Edition und Hörbuch erhältlich)
- Begleitprogramm zur Ausstellung Zwei Männer — ein Meer: Pechstein und Schmidt-Rottluff an der Ostsee (PDF-Dokument, 3,2 MB)
(Fotos: Martin Hiller)
Martin Hiller ist Betreiber eines Do-It-Yourself-Labels (Rakkoon Recordings), Musiker (Huey Walker, The Splendid Ghetto Pipers) und schreibt in unregelmäßigen Abständen unter dem Alias Ferdinand Fantastilius für den Fleischervorstadt-Blog.