Prof. Dr. Eckhard Schumacher (Universität Greifswald, Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie)
Man müsse, hört man häufig, Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit verstehen. So habe man eben damals gedacht, wir hatten keine besseren Demokraten, wird gesagt. Auch das macht den Streit um den Namenszusatz der Universität Greifswald so befremdlich und so schwer nachvollziehbar. Tatsächlich kann man ohne größere Schwierigkeiten feststellen, dass im frühen 19. Jahrhundert chauvinistischer Nationalismus und wütender Antisemitismus ähnlich weit verbreitet waren wie schöne Märchen und mittelmäßige Dichtung. Die Mahnung, man müsse Arndt in seiner Zeit verstehen, zeugt allerdings häufig doch nur von erkennbar überanstrengten Bemühungen, diese Zeit so zu rekonstruieren, dass sich Fremdenhass und Antisemitismus relativieren lassen (und man im gleichen Zug Mittelmäßigkeit nicht mehr so recht als solche identifizieren kann).
Viele haben wie Arndt gedacht, wenn auch nicht so viele, wie manche es heute gern sehen würden. Viele aber, und das wird gelegentlich ausgeblendet, haben nicht so gedacht. Deutlich wird dies schon, wenn man nur einige der Stimmen aufruft, die Arndt schon insofern „in seiner Zeit“ verstanden haben, als sie selbst in eben dieser Zeit gelebt, gelesen, geschrieben und dabei nicht immer weit von ihm entfernt gestanden haben.
Anlässlich des 70. Todestags des in Greifswald geborenen Schriftstellers Hans Fallada findet an diesem Wochenende das gleichnamige Literaturfestival statt.
Bedeutende Söhne der Stadt erleben derzeit in Greifswald eine ungewohnte Renaissance. Ob sich dieses neuentdeckte Interesse nur auf einen in Groß Schoritz geborenen Heimatdichter beschränkt oder das Interesse für hiesige Autoren darüber hinausgeht, wird sich an diesem Wochenende beim Fallada-Festival zeigen.
Zehn Veranstaltungen laden zu einer Beschäftigung mit dem großartigsten Schriftsteller aus der Fleischervorstadt ein. Die meisten finden in seinem Geburtshaus in der Steinstraße — dem Falladahaus — statt. Dort ist unter anderem Achim Ditzen, Falladas Sohn, zu Gast. Er wird aus den Briefen seines Vaters lesen. Bei weiteren Lesungen kann man Hannes Rittig (Jeder stirbt für sich allein) und Jan Holten (Der Trinker) erleben. Vorträge über Fallada steuern Prof. Dr. Eckard Schumacher, Dr. Roland Ulrich (beide Universität Greifswald) und Stefan Knüppel (Fallada-Museum Carvitz) bei. „Fallada-Festival: Literarischer Rundumschlag zum 70.“ weiterlesen →
Martin Hiller umrundet und interviewt Schorsch Kamerun
Wer erinnert sich nicht an sie, an dieses marottenbehaftete Verpuppungsstadium im Leben: die Jugend. Diese Zeit, in der man ungestüm durchs Leben stolpert, hormonell bedingt sonderbare Gerüche ausstößt und nassforsch, bestenfalls unertappt, Unsinn verzapft, für den man auf der langen Mittelstrecke des müßigen Erwachsenseins zukünftig keine Zeit mehr zu haben droht. In der Jugend lotet sich so ein Menschsein aus, indem es sich in verschiedenartige Bezüge zur Welt setzt.
Wer aufmerksam gelesen hat und mit offenen Sinnen durch die Welt wankt, wird gemerkt haben: das ist alles nichts Jugendspezifisches. Sogar diejenigen, die noch mittendrin stecken und durch ihre aktuell-akute Jugend wie durch eine Geisterbahn torkeln, in der man aus Versehen die Baulampen angelassen hat, ahnen, dass man auch nach der Adoleszenz viel Unsinn, Unfug und Unnötiges macht — dann jedoch mit mehr Auswirkungen und weniger Unrechtsbewusstsein. Weil alle heutzutage am liebsten für immer jung sein wollen, sind Erwachsene heute so eine Art schlecht geupdatete Versionen von Jugendlichen. Kindsgeister, hineingepresst in Erwachsenenkostüme wie schlecht ausgelüftete Schlafsäcke. Die Werbe- und Marketingspatzen kreischen es fortwährend von den Dächern: Der süße Vogel Jugend solle heutzutage endlos währen und wer nicht jugendlich ist, ist ein espritloser Trottel. Schlussendlich stolpern sich die Menschen durch dieses Überangebot an Identitätsmöglichkeiten; ziel- und ortlos durch die zur endlosen Zähe gedehnte Dauerjuvenilität mäandernd.
Gegenkulturgespräche in der Brathähnchenhitze
Schorsch Kamerun entlehnt den Titel seines ersten Romans Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens einem Lied, das er vor zwanzig Jahren veröffentlichte. Das passt ganz prima, denn um die Jugend geht es in dem Buch auch. Verklausuliert in einer Reihe von Protagonisten und einer Erzählung, die am „Bimmelsdorfer Strand“ beginnt, flicht Kamerun hier unschwer erkennbar seine eigene Biografie hinein. Vom Timmendorfer Strand verschlug es ihn in den Achtzigern nach Hamburg, wo er als Mitbegründer des Golden Pudel Clubs auch heute noch seine Füße in der Subkultur hat.
Beim Gespräch im Café-Garten des Koeppenhauses
Am 24. Juni stellte Schorsch Kamerun seinen Debütroman im Koeppenhaus vor. Aus dem Buch las er dabei kaum, vielmehr präsentierte sich die Veranstaltung im Rahmen der Koeppentage als heitere Plauderei zwischen Prof. Eckhard Schumacher und dem Autor. Was an diesem titelgebenden Ausspruch mit der Jugend so Stichhaltiges dran ist und inwiefern diese — speziell in Kameruns eigener Vita — mit den Ideen des Punk korreliert, darüber habe ich mit Schorsch Kamerun vor seiner Lesung, in der Brathähnchenhitze im Café-Garten des Koeppenhauses, gesprochen. „Jugend“ und „Punk“ spielen in dem Buch zwei große Rollen. Schorsch lässt sich trotzdem ungern auf diese Begriffe und schon gar nicht auf eine Patenonkelschaft seinerseits verhaften. Trotzdem kreist das Buch um genau diese Themen und öffnet Türen zu den dort angedrahteten Diskursen um Jungsein, Identitätssuche und Gegenkultur: Dinge, die heutzutage weniger klar definiert zu sein scheinen, als vor 40 Jahren – als Punk noch jugendlich war. „Im Gespräch mit Schorsch Kamerun“ weiterlesen →
Mit Jochen Distelmeyer kommt am Donnerstag der dritte Absolvent der inzwischen abgerissenen Hamburger Schule innerhalb weniger Wochen für eine Lesung nach Greifswald.
Wenn etwas mehr Einigkeit herrschen würde, hätten die Auftritte diverser Künstler den Charme eines über mehrere Wochen gestreckten Klassentreffens: Konnte man Anfang Juni noch Kristof Schreuf (Kolossale Jugend) im IKUWO erleben, der dort die Ausführungen des Autors Thomas Ebermann über Firmenhymnen musikalisch begleitete, redete sich Schorsch Kamerum (Die Goldenden Zitronen) am vorletzten Freitag im Koeppenhaus um Kopf und Kragenweite. Für diesen Donnerstag steht Jochen Distelmeyer (Blumfeld) auf dem Programm, der mit einer musikalischen Lesung seines Romans Otis den Hidden Track zu einem wissenschaftlichen Workshop abliefern und ihn mit den Songs seines aktuellen (Cover-)Albums Songs from the Bottom Vol. 1 anreichern wird.
Für Jochen Distelmeyer wird das nicht der erste Auftritt in der Hansestadt werden. Der Sänger der inzwischen aufgelösten Band Blumfeld spielte bereits 1999 auf dem „Festival gegen Rassismus“ auf dem Greifswalder Marktplatz — damals, vor mehr als siebzehn Jahren, übrigens unter anderem zusammen mit Tocotronic und Tomte. Den Rahmen des diesjährigen Konzerts bildet der in diesem Jahr in dritter Auflage stattfindende Workshop „Schreibweisen der Gegenwart“ von Professor Eckhard Schumacher, der die Frage aufwirft, wie im literarischen Schreiben Gegenwart dargestellt, reflektiert, produziert wird.
Es wird empfohlen, sich im Vorfeld für den Abend mit Jochen Distelmeyer per E-Mail (elias.kreuzmair[at]uni-greifswald.de) anzumelden, um die Chance auf einen Sitzplatz wahrnehmen zu können.
Am Montag beginnen die Greifswalder Koeppentage, die den 110. Geburtstag des Schriftstellers mit einem wohlkuratierten Programm feiern.
Die Koeppentage sind fester Bestandteil des Greifswalder Kulturrhythmus. Das Literaturfestival, das jährlich rund um den 23. Juni, dem Geburtstag des Schriftstellers und Greifswalder Ehrenbürgers stattfindet, wird in diesem Jahr unter dem inzwischen vielzitierten Motto „Ich versuchte die Stadt“ vom Koeppenhaus präsentiert.
Vom 20. bis zum 29. Juni rücken acht Veranstaltungen Wolfang Koeppen und sein literarisches Werk in den Mittelpunkt. Im Fokus der diesjährigen Koeppentage steht der auf Greifswald bezogene, autobiografische Prosatext Jugend, der von einem jungen Außenseiter erzählt, der in seiner Geburtsstadt Greifswald niemals heimisch wird. Der Außenseiter, der mit dem Makel der Armut und der unehelichen Geburt behaftet, durch die Stadt streift und sich von den argwöhnischen Blicken der Bürger verfolgt wähnt. „In meiner Stadt war ich allein“, urteilt der Junge, feiert Niederlage und Zusammenbruch des Kaiserreiches und denkt an Flucht in die großen Städte und fernen Länder.
„In Greifswald wurde ich geboren, das lässt sich nicht leugnen…“
Die Koeppentage beginnen am Montag mit einer Ausstellungseröffnung im „Münchner Zimmer“, die den Versuch unternimmt, die Entstehungsgeschichte von Jugend zu skizzieren und anhand persönlicher Dokumente aus dem Nachlass des Autors die literarischen Erinnerungen an ein Leben in Greifswald Anfang des 20. Jahrhunderts anschaulich zu machen. Zu den weiteren empfehlenswerten Veranstaltungen gehört auf jeden Fall die Präsentation der Werkausgabe und der digitalen textgenetischen Edition von Jugend mit der in Greifswald aufgewachsenen Autorin Judith Schalansky, dem Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger, Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher. In fast identischer Besetzung sorgte dieses Podium bei den Koeppentagen des letzten Jahres für ungebrochene Erheiterung im Publikum und unter den Vortragenden.
Weiterhin findet eine Lesung mit dem Koeppenpreisträger 2014, Karl-Heinz Ott, statt. Der Autor schlug, wie es die Preisträger dieser Auszeichnung traditionell tun, den nächsten Koeppenpreisträger vor. Er sprach sich dabei für den Schriftsteller Thomas Hettche (Pfaueninsel) aus, dem der Preis am Donnerstag durch Oberbürgermeister Stefan Fassbinder verliehen wird. Am nächsten Freitag darf man sich dann auf die Goldene Zitrone Schorsch Kamerun freuen. Der Musiker, Theaterregisseur und Hörspielautor wird im Koeppenhaus aus seinem autobiographischen Roman Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens lesen, der nach einem mehr als zwanzig Jahre älteren und inzwischen nochmal neu aufgenommenen Song Schorsch Kameruns benannt ist.
Die Koeppentage enden am kommenden Sonnabend mit einem literarischen Rundgang durch Greifswald, bei der unter Federführung von Monika Schneikart (Universität Greifswald) Orte aufgespürt werden, an die in Jugend erinnert wird.
Mit einem Vortrag von Christina von Braun beginnt heute Abend die interdisziplinäre Ringvorlesung „Konsum und Geschlecht“. Die Vortragsreihe thematisiert sowohl Agenten und Akteure, als auch Konsumgüter und -räume hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Markierungen.
Im beginnenden Wintersemester 2015/16 veranstaltet das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung wieder eine Ringvorlesung, in deren Fokus in diesem Jahr zwei gegenläufige Perspektivierungen von Gender und Konsum stehen: Zum einen die Frage nach dem Gendering von Konsumkultur und Warenästhetik, zum anderen die Analyse von Gender als einem Konsumgut, das in den verschiedenen Konjunkturen der Geschlechtertheoriebildung auf den Markt geworfen, verbraucht und recycled wird.