Die Stasi machte auf der Suche nach geeigneten Spitzeln selbst vor Kindern und Jugendlichen nicht Halt. Eines der prominentesten Opfer dieser Anwerbungspraxis ist die in Greifswald aufgewachsene Angela Marquardt. Sie hat ein Buch über dieses Kapitel ihres Lebens geschrieben, dass sie am Freitag im Koeppenhaus vorstellen wird.
Angela Marquardt legte in den Neunziger Jahren eine politische Blitzkarriere hin: Mit nicht einmal zwanzig Lebensjahren wurde die junge Punkerin überraschend in den Bundesvorstand der PDS gewählt; mit 23 Jahren folgte der stellvertretende Parteivorsitz. Kurz darauf gelang ihr der Einzug in den Bundestag, wo sie für die Dauer der Legislatur Mitglied der damaligen PDS-Fraktion war, ehe sie die Partei verließ und sich der SPD zuwandte.
2002, das war für Angela Marquardt nicht nur der Beginn vom Ende ihres Parteilebens in der PDS, sondern auch das Jahr, in dem sie hart und unerwartet von ihrer eigenen Vergangenheit und den unverarbeiteten Wunden der Kindheit eingeholt wurde, als eine Verpflichtungserklärung zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit öffentlich wurde, die Angela Marquardt 1987 unterschrieben hatte. Den Text hatte sie mit einem Füllfederhalter in kindlicher Schönschrift zu Papier gebracht. Das etwas ungelenke Schriftbild überrascht kaum, denn zu diesem Zeitpunkt war sie erst 15 Jahre alt.
Angela Marquardts Schicksal ist kein Einzelfall, der jüngste Spitzel war 12
Angela Marquardts Schicksal ist kein Einzelfall, ganz im Gegenteil. Es steht exemplarisch für den systematischen und missbräuchlichen Einsatz von Minderjährigen im Dienst der Staatssicherheit. Der jüngste Stasi-Spitzel soll ein Zwölfjähriger aus Bad Salzungen gewesen sein, Deckname Jüngling. Die Forschung ist sich uneins, wie viele Minderjährige das MfS angeworben hat: Die beiden im Buch zitierten Studien geben jeweils einen einprozentigen beziehungsweise einen sechsprozentigen Anteil Minderjähriger an den Stasi-IMs an — es dürften also weit mehr als tausend Jugendliche für die Spitzeldienste der Staatssicherheit missbraucht worden sein. Für die Medien war die Geschichte der jungen linken Politpunkerin mit mutmaßlicher Stasi-Vergangenheit ein gefundenes Fressen, doch die Aufregung legte sich irgendwann wieder. Eines Tages begegnete Angela Marquardt zufällig ihrem früheren Führungsoffizier und beschließt daraufhin, ihre Lebens- und Leidensgeschichte aufzuarbeiten und in Buchform zu rekonstruieren, was damals wirklich geschehen ist.
Der Abend ist als ein Gespräch zwischen Angela Marquardt und Roland Jahn, dem Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU, konzipiert und wird von Hinrich Kuessner (früher Neues Forum) moderiert. Das Buch Vater, Mutter, Stasi – Mein Leben im Netz des Überwachungsstaates von Angela Marquardt mit Miriam Hollstein erschien im Frühjahr 2015 im KiWi-Verlag.
Ein ausführliches Interview mit Angela Marquardt, das vor der Lesung geführt wurde, ist inzwischen ebenfalls auf dem Fleischervorstadt-Blog abrufbar
Fakten: 18.09. | 20 Uhr | Koeppenhaus | 5/3 EUR