Prof. Dr. Helmut Klüter (Universität Greifswald, Regionale Geographie)
Arndt hatte keine wissenschaftlichen und persönlichen Bezüge zu seinem Zeitgenossen Carl Ritter (1779 – 1859), seit 1820 der Inhaber des ersten geographischen Lehrstuhls in Deutschland an der Berliner Universität. Nichtsdestoweniger griff Arndt in seinen Werken, vor allem in seinen späten Bonner Vorlesungen, weit in geographische Inhalte hinein, so etwa im „Versuch einer vergleichenden Völkergeschichte“ (1842) und in „Pro populo germanico“ (1854). Besonders aufschlussreich ist sein Szenario über Deutschlands Zukunft am Schluss der „Erinnerungen aus dem äußeren Leben“ (1840).
Als Zielgröße bestimmte er einen großen deutschen Staat unter Annexion der Benelux-Länder und anderer Territorien. Das Risiko eines großen europäischen Krieges war ihm dabei bewusst, doch er sah ihn als unvermeidlich an. Arndt begründet seine Imperative über Krieg und Frieden mit geographischen Lagebeziehungen. Nicht mehr der Wille politischer Entscheider (polites = Bürger) wird als konstitutiv betrachtet. Stattessen werden die Notwendigkeiten des politischen Handelns aus der Natur abgelesen. Es kommt dann darauf an, dass der Monarch oder ein Führer diese Natur richtig liest.
Dieser Ansatz gelangte über den Arndt-Schüler Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) an den Apotheker und späteren Anthropogeographen Friedrich Ratzel (1844 – 1904). Von ihm übernahm der schwedische Staatswissenschaftler und Geograph Rudolf Kjellen (1864 – 1922) jenen Ansatz und prägte dafür den Begriff „Geopolitik“. Diese Geopolitik wird seitdem vor allem von autoritären Regimes und Diktatoren genutzt, um die eigene Aggressivität als naturgegeben aus den räumlichen Verhältnissen abzuleiten.
Die unterschiedlichen räumlichen Kategorien „Heimat“ (idealtypisch: kleinräumig empirisch erfahrene Kindheitsumgebung) und „Administrativraum“ (großräumige staatliche Verwaltungseinheit) vermischt Arndt zu einer quasi-religiösen Vorstellung von „Vaterland“. Anstelle des feudalen Landesherrn und der ihm zu erbringenden Gefolgschaft tritt nun „Vaterland“ als Motivationsrahmen für den straffreien Totschlag im Kriege. Dieses „Vaterland“ wird dabei als Sprachraum definiert, wobei die existierenden politisch-territorialen Grenzen in Frage gestellt werden. In Arndts Text von 1840 sind bereits alle Merkmale der späteren Geopolitik ausformuliert. Die prominente Positionierung ans Ende der „Erinnerungen aus dem äußeren Leben“ rechtfertigt es, von einem geopolitischen Vermächtnis zu sprechen. In der von Fritz Zschech besorgten DDR-Ausgabe jenes Buches aus dem Jahre 1953 wurden die 20 Seiten des geopolitischen Vermächtnisses vollständig gestrichen (vgl. Klüter 2010).
Für den aus seiner Sicht unvermeidlichen Krieg schuf Arndt über fast alle Nachbarländer Deutschlands negative Stereotypen, von denen die über Frankreich, Polen und Italien die schlimmsten sind. Mit Hilfe nationaler Stereotypen sollten Angst und Verachtung anderen Staaten gegenüber erzeugt werden. Damit sollte in der Bevölkerung latente Aggressivität aufgebaut werden. Arndt hatte schon früh damit begonnen, solche Stereotypen zu formulieren. Im Spätwerk wurden sie weiter verfeinert und suggestiv wiederholt. Die lange Friedensperiode seit 1815 milderte Arndts Ansichten über die Nachbarländer nicht, im Gegenteil, er verschärfte sie. Heute kann jeder auf die im Internet veröffentlichten Originalausgaben von Arndts Büchern zugreifen. Aufgrund der Nachbarschaft zu Polen sind für Greifswald und Vorpommern Arndts Verleumdungen über dieses Land von besonderer Problematik. Die Poznaner Dissertation von M. Muallem (1997; deutsch 2001) bezeugt dies.
Wichtigster staatstragender Stand sollte nach Arndt (1840) das Bauerntum sein, das er über besondere Erbregelungen und Verkaufsverbote an den Boden ketten wollte: „Das Land und der Landbesitz dürfen nicht freigelassen werden wie die Personen“ (Arndt 1842, S. 12). Freiheit von Leibeigenschaft bedeutete bei Arndt also keineswegs wirtschaftliche Freiheit für die Bauern. Die von ihm vorgeschlagene Bindung an das Land nimmt bereits Instrumente der späteren nationalsozialistischen „Blut-und-Boden“-Ideologie vorweg. Verständnislos stand Arndt der Verstädterung und der Industrialisierung gegen- über. Er propagierte einen straffen Antisozialismus, wobei er sozialistische Tendenzen als Ergebnis übertriebener, unnützer Aufklärungsarbeit bewertete.
Vergleicht man Arndts Konzepte mit den geographischen und raumwissenschaftlichen Ansätzen seiner Zeit, fällt auf, dass er die Werke seines Altersgenossen Alexander von Humboldt (1769 – 1859), die von Carl Ritter und die agrarökonomischen Arbeiten Johann-Heinrich von Thünens (1783 – 1850) nicht beachtet hat. Dennoch: als nach der Reichsgründung 1871 an fast allen größeren Universitäten geographische Institute gegründet wurden, orientierte man sich weniger an den empirisch-analytischen Methoden Humboldts oder den wirtschaftsgeographischen Modellen von Thünens, als an Arndts normativ-ideologischen Konstrukten, die man im Vergleich zu den beiden ersteren aus damaliger Sicht als unwissenschaftlich bezeichnen muss. Besonders nach 1900 wurde Arndt auflagenstark unter das Volk gebracht. Große Teile der Geographie degenerierten zur Vaterlandsideologie (vgl. Schultz 1989). Arndt, seine Mitstreiter, seine Nachfolger und deren Schüler haben die deutschsprachige Humangeographie um Jahrzehnte zurückgeworfen. Erst nach 1960 konnte der Theorie-Rückstand gegenüber dem angelsächsischen und französischsprachigen Ausland aufgeholt werden.
Arndt hat den geographischen Kenntnisstand seiner Zeit extrem vereinfacht und mit voller Absicht zugunsten seiner Stereotypen verfälscht. In den breit ausladenden, mehrere hundert Seiten langen Monographien des Spätwerks können die Vereinfachungen nicht durch journalistische „Zwänge zur Kürze“ oder „Verteidigungskriege“ gerechtfertigt werden. In Arndts Buch „Pro populo Germanico“ (1854) werden die nationalen Stereotypen unter zwei Hauptkapiteln vorgestellt: „Wir“ und „Die anderen“. Dieses Gliederungsschema wurde seitdem tausendfach kopiert ist heute konstitutiver Bestandteil rechtspopulistischer Argumentation.
Arndt war mit seinen Ansichten keineswegs ein „Kind seiner Zeit“, wie oft behauptet wird: 1812 kam es in Preußen gegen den Willen Arndts und seiner Mitstreiter zur Judenemanzipation. 1815 wurden sie von Saul Ascher (1767 – 1822) unter dem Titel „Die Germanomanie“ in einer Weise kritisiert, die bereits wichtige Momente der Auseinandersetzung mit dem damals entstehenden Rechtspopulismus enthält (vgl. Klüter 2016).
Auch in anderen Staaten gab es seinerzeit nationale Reformbewegungen. Besonders interessant sind die Vergleiche mit Russland und Dänemark. Die dortigen Schlüsselpersonen Nikolaj Grundtvig (1783 – 1872) in Dänemark und Michail Speranskij (1772 – 1839) in Russland stammten aus dem Bürgertum und hatten eine theologische Vorbildung genossen – wie Arndt. Jedoch keiner von ihnen lenkte den neuen Nationalismus in Richtung auf Aggression nach außen. Grundtvig schuf eine Art Bildungsnationalismus (vgl. Grundtvig 2010), der von den anderen skandinavischen Ländern kopiert wurde. Speranskij versuchte, Russland in einen modernen Rechtsstaat umzuwandeln Dabei sicherte er unter anderem die Befreiung von der Leibeigenschaft für die Landesteile Polen, Finnland, Baltikum und Sibirien. Für das russische Kernland konnte er sie nicht durchsetzen.
Arndt nahm all dies kaum zur Kenntnis. Nur mit der Befreiungsbewegung in Italien befasste er sich intensiver. In besonderer Weise griff er Giuseppe Mazzini (1805 – 1872) an, der ähnlich wie Grundtvig einen friedlichen Vaterlandsbegriff entwickelt hatte (vgl. Klüter 2010). Nach Mazzini sollten sich die neuen Nationalstaaten Europas in friedlicher Arbeitsteilung gegenseitig ergänzen. Es gehört zu den tragischen Momenten der deutschen Geschichte, dass Arndt an seinem Europa der Feinde und der Feinbilder zu einer Zeit arbeitete, als anderswo bereits über die Möglichkeit einer friedlichen europäischen Einigung nachgedacht wurde. Verhängnisvoll war auch, dass der damals nur spärlich ins Deutsche übersetzte Giuseppe Mazzini als Träger dieser Ideen dem deutschen Publikum durch das niederträchtige Urteil seines Gegners Ernst Moritz Arndt nahe gebracht wurde.
Die deutsche Einigung von 1871 verlief im Gegensatz zu Arndts Erwartungen vergleichsweise unspektakulär, d. h. ohne einen großen Krieg. Sie war aus europäischer Sicht Ergebnis einer Reihe kleinerer, regional begrenzter Konflikte und einer preußischen Beschwichtigungsdiplomatie, die praktisch einer Tiefstapelei gleichkam. Sie stand im krassen Gegensatz zu Arndts Hochstapelei und seinen Großmachtallüren. Unter diesen Aspekten kam die deutsche Einigung 1871 nicht mit Arndt, sondern trotz Arndt zustande. Tiefstapelei und Beschwichtigungsdiplomatie den Großmächten und Nachbarländern gegenüber waren erneut wichtige Ingredienzen der deutschen Wiedervereinigung von 1990, so dass auch für diesen zweiten Einigungsprozess Arndt keineswegs als Pate gelten kann.
Arndts große Stunde schlug in der Zeit der Vorbereitung des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918). Seine Ideen wurden durch die staatstragende Publizistik und nicht zuletzt durch als „Vaterlandswissenschaftler“ auftretende Geographen multipliziert. Sie beteiligten sich fast ein Jahrhundert lang intensiv an der Perfektionierung seiner Stereotypen, bauten sie in die Didaktik des Faches ein und trugen sie an die Schule. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen einige Geographen bereits in den zwanziger Jahren mit der ideologischen Vorbereitung eines weiteren Krieges. Geopolitik wurde eine eigenständige Disziplin (vgl. Heinrich 1991). Arndts Stereotypen und seine geopolitischen Vereinfachungen fanden für die Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkriegs breite Anwendung.
Arndt gehört damit zu den Schreibtischtätern der deutschen Geschichte. Er hat nicht nur Feindbilder über Juden und Franzosen entworfen, sondern über fast ganz Europa. Sein „Europa der Feinde“ belastete das Deutsche Reich mit einer gefährlichen ideologischen Hypothek, noch bevor es als eigenständige Administration 1871 gegründet wurde. Er und seine Nachfolger stehen für Demokratiefeindlichkeit, schlimmste Diffamierungen fast aller europäischen Nachbarn, feindbildorientierte Geopolitik, Entwicklung von Informationsstrategien für „Kalte Kriege“ und für den Aufbau von Massenaggression. Mit derartigem ideologischem Rüstzeug sind Millionen von Menschen in zwei Kriege (1914 – 1918; 1939 – 1945) gezogen und haben ein Mehrfaches von dem umgebracht, was Arndt seinerzeit Napoleon anlasten konnte.
Zu Arndts Standardwerkzeug gehörte die populistische Vereinfachung. Mit „Pro Populo Germanico“ schrieb er schuf er den Prototyp eines rechtsextremen Weltbildes, aus das die Protagonisten dieser Richtung bis heute gern zurückgreifen. Dieses Werk wie auch die anderen bekannt gewordenen Vorlesungen sind aus geographischer Sicht vor dem Hintergrund des damaligen Kenntnisstandes zutiefst unwissenschaftlich. Damit kann Arndt weder für eine Hochschule noch für die Hochschullehre als Vorbild dienen. Arndt führt in seiner Autobiographie „Erinnerungen aus dem äußeren Leben“ seinen Leser durch Frieden, Krieg und dann wieder Frieden in das bereits erwähnte geopolitische Vermächtnis. Die letzten Worte darin sind Hass:
„Wenn die Übermütigen uns aber zuschreien: „Der Rhein Frankreichs Naturgrenze“, so sollen wir ihnen antworten: „Heraus mit Elsaß und Lothringen!“ So stehe und bleibe der politischeHass, weil sie ihn haben wollen und weil wir ihn als Wehr gegen ihre Gaukeleien und Treulosigkeiten bedürfen.“ (Arndt 1842, S. 378).
Dem kann man mit einem Zitat des von Arndt verteufelten Giuseppe Mazzini begegnen:
„…And this moral something is at the bottom, even politically speaking, the most important question in the present stage of things. It is the organisation of the European task. It is no longer the savage, hostile, quarrelsome nationality of two hundred years ago which is invoked by these peoples. The nationality which Ancillon founded upon following principle: – Whichever people, by its superiority of strength, and by its geographical position, can do us injury, is our natural enemy; whichever cannot do us an injury, but can by amount of its force and its position injure our enemy, is our natural ally,- is the princely nationality of aristocracies or royal races.
The nationality of peoples has not these dangers; it can only be founded by a common effort and a common movement; sympathy and alliance will be its result. In principle, as in the ideas formerly laid down by the men influencing every national party, nationality ought only to be humanity that which the division of labour is in a workshop – the recognized symbol of association; the assertion of the individuality of a human group called by its geographical position, its traditions, and its language, to fulfil a special function in the European work of civilisation.” (Mazzini 1852, S. 247)
Literatur:
- Arndt, Ernst Moritz (1840): Erinnerungen aus dem äußeren Leben. 1840. 3. Auflage: Leipzig 1842.
- Arndt, Ernst Moritz (1840/1953): Erinnerungen aus dem äußeren Leben. Überarbeitet und herausgegeben von Dr. Fritz Zschech. Rudolstadt 1953.
- Arndt, Ernst Moritz (1844): Versuch in vergleichender Völkergeschichte. 2. Auflage. Leipzig.
- Arndt, Ernst Moritz (1854): Pro populo Germanico. Berlin.
- Ascher, Saul (1815): Die Germanomanie. Skizzen zu einem Zeitgemälde. Berlin. Download
- Grundtvig, Nikolaj F. S. (2010): Schriften in Auswahl. Hr. v. K. E. Bugge, F. Lundgreen-Nielsen, T. Jørgensen. Göttingen.
- Heinrich, Horst-Alfred (1991): Politische Affinität zwischen geographischer Forschung und dem Faschismus im Spiegel der Fachzeitschriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Geographie in Deutschland von 1920 bis 1945. Gießen. 26 27
- Klüter, Helmut (2010): Ernst Moritz Arndt und seine Bedeutung für die Geographie. Greifswald. Download
- Klüter, Helmut (2016): Ernst Moritz Arndt, Geopolitik und Rechtspopulismus. Öffentlicher Vortrag am 12.11.2016 in Greifswald. Download
- Mazzini, Giuseppe (1852): Europe: its condition and prospects. “Westminster Review“, April 1852, S. 236 – 250.
- Muallem, Maria (2001): Das Polenbild bei Ernst Moritz Arndt und die deutsche Publizistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Polnische Originalausgabe Poznan 1997. Frankfurt am Main.
- Schultz, Hans-Dietrich (1989): Die Geographie als Bildungsfach im Kaiserreich. Osnabrück.
- v. Thünen, Johann Heinrich (1826): Der isoli[e]rte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, oder Untersuchungen über den Einfluss, den die Getreidepreise, der Reichtum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben. Hamburg.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in „Für die Universität Greifswald. Zeitung mit Fakten zum Namensstreit an der Universität Greifswald“ (2017, PDF-Download, 0,8 MB) und wurde mit freundlicher Genehmigung der Autoren auf dem Fleischervorstadt-Blog veröffentlicht.