Eine Premierenrezension von Dominik Wachsmann
Wer ist eigentlich diese Marie, von der gerade alle reden?
Marie ist zu einer lokalen Berühmtheit geworden. Die ganze Schule spricht von ihr, das heißt, eigentlich mehr über sie. Mit ihr selbst spricht niemand und auch sie spricht mit niemandem.
Marie ist gerade 16 Jahre alt geworden. Ihre Mutter, die hinter ihrem Smartphone verschwunden ist und die Maries abwesenden Vater tief zu hassen scheint, weiß wohl gerade noch, wie alt ihre Tochter geworden ist. Maries beste Freundinnen haben ihr ein tolles Kleid geschenkt. Drei Tage nach ihrem Geburtstag geht sie in diesem Kleid auf eine Party. Am Ende der Party ist nicht nur Maries Kleid zerrissen, sondern auch ihre Seele.
Chronik eines zerstörten Lebens
Marie ist zu Beginn des Stückes ein lebensfrohes, selbstbewusstes Mädchen. Nach der Party im Haus von Peters Eltern gehört sie zu den über 70 % Frauen, die in ihrem Leben mindestens einmal sexuelle Gewalt erfahren haben und von denen es nur eine Handvoll schafft, zur Polizei zu gehen. Warum erstatten die Betroffenen so selten Strafanzeige?
Marie erfährt schnell die Gründe dafür am eigenen Leib. Sie wird der „Warum“-Kanonade ausgesetzt. Warum hast du dich nicht gewehrt? Bist nicht weggelaufen? Hast nicht geschrien? Fragen von Leuten, die alle eine klare Vorstellung zu haben scheinen davon, was eine „richtige“ Vergewaltigung ausmacht und wie sie sich an Maries Stelle verhalten hätten.
Demütigung statt Fürsorge
Marie erlebt, dass sie nicht in Schutz genommen, sondern sogar unter Verdacht gestellt wird. Dass sie ja eigentlich doch selbst Schuld ist, denn was geht sie auch zu einer Absturzparty? Und dann auch noch so sexy angezogen, da musste ja irgendwas passieren.
Wolltest Du es am Ende vielleicht doch? Warst Du betrunken? Was erwartest Du auch, wenn Du dich so kleidest. Männer sind halt so. Und wenn Marie den Täter sogar kannte, dann war es ja gar keine „richtige“ Vergewaltigung.
Schläge ins Gesicht
Wer bisher noch nicht wütend ist, der wird es spätestens, wenn Maries Umfeld beginnt, ihr Trauma gnadenlos zu relativieren. Es hagelt in diesem Stück Sätze, die wie die Ohrfeigen klingen, die sie eigentlich verdient hätten. „Bei uns in der Gegend gibt es doch solche Leute gar nicht“ … die so etwas tun. Maries Mutter, ihre Freunde und Mitschüler, die Polizei — keiner scheint ihr so recht zu glauben, denn: Sie weint ja nicht einmal.
Und genau darum geht es auch im Stück: Das Eingefrorensein, die Wehrlosigkeit Maries im Augenblick der Tat, ihre körperliche und geistige Abstumpfung danach und den völligen Verlust von Sicherheit, wenn schon der bloße Geruch eines Getränks den Täter in ihr Zuhause bringt.
Harter Stoff und starke Darsteller
Das Neue Stück vom Theater H2B lässt einen erschüttert zurück, mit tiefer Wut im Bauch und der naiven Hoffnung, dass das eben Gesehene doch bestimmt ein wenig übertrieben war. Doch das ist es leider keineswegs.
„Du weinst ja nicht mal“ basiert auf einem von zu vielen realen Fällen, nicht nur aus der Umgebung von Greifswald. Unbedingt sehenswert.
Sensibler Minimalismus
Eindringlichkeit. Die acht Jungschauspieler, alle im Alter von 17 Jahren, bringen pure Intensität, Ernsthaftigkeit und eine fast beängstigende Vertrautheit mit dem Thema auf die Bühne. Die Bühne ist dabei fast völlig leer, nur der erschütternd realitätsnahe Text füllt den Raum. Es gibt einen Wechsel zwischen Spielszenen und Videosequenzen, denn Marie hat gerne Videotagebuch geführt.
Es gelingt dem Stück auf bemerkenswerte Weise, die schweren persönlichen Folgen einer Vergewaltigung sowie die Erbarmungslosigkeit der Gesellschaft im Umgang mit der/den Betroffenen zu schildern, ohne dabei die fatale Gleichung aufzumachen, dass alle Männer Täter und alle Frauen Opfer seien.
„Du weinst ja nicht mal“
Text: Christian Holm, Nele Spangenberg, Devansh Dhard, Leonard Bühner
Regie: Eva-Maria Blumentrath und Christian Holm (Theater H2B)
Darstellende: Enni Arden, Leonard Bühner, Devansh Dhard, Henning Jeschke, Elisa Jungnickel, Clara Martens, Klara Meissner, Nele Spangenberg
Weitere Vorstellungen: 22.11., 30.11., 07.12. und 29.01. im Rubenowsaal, Greifswald
Karten und Infos: Theater Vorpommern