Unwort des Jahres 2012: „Opfer-Abo“

Es ist Januar und damit wieder Zeit dafür, das Unwort des Jahres zu bestimmen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache versucht mit der Verleihung dieses Titels seit 22 Jahren, auf solche Begriffe der öffentlichen Kommunikation aufmerksam zu machen, die in besonderem Maß gegen das Prinzip der Menschenwürde oder das Prinzip der Demokratie verstoßen, die einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind.

DEUTLICHE POSITIONIERUNG GEGEN TÄTER-OPFER-UMKEHR BEI SEXUALISIERTER GEWALT 

Zur Jury gehören dabei die vier Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Nina Janich, Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Uni Greifswald),  PD Dr. Kersten Sven Roth (früher ebenfalls Uni Greifswald), Prof. Dr. Martin Wengeler sowie der Journalist Stephan Hebel (Frankfurter Rundschau) und ein jährlich wechselndes Jurymitglied —  dieses Jahr wird der Platz von Ralph Caspers (WDR) besetzt.

unwort des jahresVorab wurde damit gerechnet, dass 2012 der unselige Begriff „Schlecker-Frauen“ den anderen Unwörtern  den Rang ablaufen würde. Die Jury erreichten immerhin 2241 Einsendungen mit Wortvorschlägen, von denen sich mit Abstand die meisten, nämlich 163, auf die entlassenen Verkäuferinnen des gescheiterten Drogeriekonzerns bezogen.

Doch das Gremium entschied sich für die Formulierung „Opfer-Abo“ — ein Ausdruck, den der 2010 wegen Vergewaltigung angeklagte, jedoch im Folgejahr freigesprochene Wettermoderator Jörg Kachelmann 2012 in mehreren Interviews gebrauchte, um zu behaupten, dass „Frauen in unserer Gesellschaft ein „Opfer-Abo“ hätten […] mit dem sie ihre Interessen in Form von Falschbeschuldigungen – unter anderem der Vergewaltigung – gegenüber Männern durchsetzen“ würden.

BEDENKLICHER EINFLUSS AUF ZIVILGESELLSCHAFTLICHEN UND JURISTISCHEN UMGANG MIT VERGEWALTIGUNGEN BEFÜRCHTET 

Die Jury, die mit der Benennung der Unwörter zu sprachkritischer Reflexion auffordern möchte, bezieht damit eine deutliche Position gegen weitverbreitete Vorurteile in Bezug auf Vergewaltigungen und die angebliche Mitschuld der zumeist weiblichen Betroffenen, wie sie auch nach der Vergewaltigung in Indien vor wenigen Wochen laut wurden. Das Wort „Opfer-Abo“ „hält die Jury angesichts des dramatischen Tatbestands, dass nur 5-8 % der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen tatsächlich die Polizei einschalten und dass es dabei in nur bei 3-4 % der Fälle zu einer Anzeige und einem Gerichtsverfahren kommt, für sachlich grob unangemessen.“

Ausdrücke dieser Art verstößen gegen die Menschenwürde der tatsächlichen Opfer und „drohen letztlich, den zivilgesellschaftlichen und juristischen Umgang mit sexueller Gewalt in bedenklicher Weise zu beeinflussen“. Die beiden weiteren, nachrangig platzierten Unwörter des Jahres 2012 sind „Pleite-Griechen“ und „Lebensleistungsrente“.

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Das Unwort des Jahres 2011

Die Gesellschaft für deutsche Sprache macht seit 21 Jahren auf Begriffe der öffentlichen Kommunikation aufmerksam, die gegen das Prinzip der Menschenwürde oder das Prinzip der Demokratie verstoßen, die einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind. Um zu sprachkritischer Reflexion aufzufordern, kürt sie jährlich ein Unwort.

GANZE BEVÖLKERUNGSGRUPPEN WERDEN AUF EIN IMBISSGERICHT REDUZIERT

Zum Unwort des Jahres 2011 wurde der Bgriff „Döner-Morde“ gekürt, mit dem Polizei und Medien die von der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verübten Morde bezeichneten. In ihrer Begründung erklärte die Jury:

unwort des jahres

Der Ausdruck steht prototypisch dafür, dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde: Die Unterstellung, die Motive der Morde seien im kriminellen Milieu von Schutzgeld- und/oder Drogengeschäften zu suchen, wurde mit dieser Bezeichnung gestützt. Damit hat Döner-Mord(e) über Jahre hinweg die Wahrnehmung vieler Menschen und gesellschaftlicher Institutionen in verhängnisvoller Weise beeinflusst.

Im Jahre 2011 ist der rassistische Tenor des Ausdrucks in vollem Umfang deutlich geworden: Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechts-terroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden.

Weitere Unworte des Jahres 2011 sind „marktkonforme Demokratie“ und „Gutmensch“. „Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck Wutbürger widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck Gutmensch Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaftlicher Wertorientierungen in rationaler Diskussion gehören.“

JURY-MITGLIEDER AUS  GREIFSWALD 

Die Jury der Aktion Unwort des Jahres besteht aus dem  Journalisten Stephan Hebel (Frankfurter Rundschau) und den vier Sprachwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Nina Janich,  Prof. Dr. Martin Wengeler, Dr. Kersten Sven Roth, Prof. Dr. Jürgen Schiewe — die beiden letztgenannten Mitglieder lehrten beziehungsweise lehren übrigens an der Universität Greifswald. Diesen fünf Juroren steht außerdem eine sechste, jährlich wechselnde Person zur Seite. Dieses Jahr war das Dr. Heiner Geißler.

Das Unwort des Jahres 2010 lautete „alternativlos“. Für das begonnene Jahr können bis zum 31.12.2012 jederzeit Vorschläge eingereicht werden. Die hierfür notwendige E-Mailadresse ist auf der Internetseite der Aktion zu finden.

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