Ostrock liegt in der Luft

Seine kulturelle Sozialisation in Greifswald zu erfahren, kann mitunter sehr schmerzhaft sein. Hier, wo sich eine Art Kulturszene beim Kampf um das letzte Quentchen Aufmerksamkeit -angebotsbedingt- nicht ins Gehege kommt, braucht es kreativen Willen, Leerräume zu füllen. Subkulturell wird regelmäßig der Blick über den Tellerrand gewagt, aber wie ist es um die etablierten Kulturräume bestellt? Ostrock liegt in der Luft!

MAN REVIVALT BIS ZUR VERRENTUNG

Seit Jahr und Tag treten in Greifswald die mehr oder weniger pensionierten Protagonisten vergangener Zeiten auf und besetzen die Erinnerung an ostdeutsche Musikkultur mit schlagerhaften Attitüden. Den eigenen Horizont längst überschritten, revivalt man sich bis zur Verrentung (und darüber hinaus) und verstellt den Blick auf die wirklich systemkritischen, subkulturellen Zuckungen des Ost-Undergrounds.

karussellAlljährlich findet in Greifswald ein Präventionstag gegen Gewalt statt, dessen Krönung in der Regel ein Konzert eben jener verblasster Helden ist, die momenthaft Stützstrumpfhose gegen E-Gitarre tauschen. Präventiver geht es gar nicht!

Wer noch nicht so lange in Greifswald lebt oder wem sich bei Zeitzeugen wie Karussell, Silly, Electra, Pankow, Stern-Combo Meissen, Karat, Klaus Renft und den Puhdys nicht die Nackenhaare sträuben, der sei nachdrücklich aufgefordert, im April ins hiesige Theater zu pilgern. Ab sofort startet der Kartenvorverkauf für das nächste und mit Sicherheit nicht letzte Karussel-Konzert in Greifswald.

Gegründet 1976 und aufgelöst Anfang der 90er Jahre, feierte die Rockgruppe 2007 ein erfolgreiches Comeback mit Reinhard Huth, Wolf Rüdiger Raschke, Joe Raschke u. a. Die Band ist bis heute geprägt durch ihre liedhafte, melodiebetonte Rockmusik in Songs wie „Fenster“, „Autostop“ oder „Als ich fortging“. Die kritischen, poetischen Texte greifen Themen und Alltagsprobleme auf, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.


Im Live-Betrieb klingt das dann wie auf diesem Video und unzähligen Musikunterrichtsstunden ähnlich .

https://www.youtube.com/watch?v=jdBJ1QaFnlM

Boxen als Gewaltprävention

Rückblickend sei noch mal auf den vergangenen Präventionstag hingewiesen, bzw. auf seine Perlen. Ich bin kein großer Verehrer des Boxsports und wenn man einzelne Zeilen des heutigen OZ-Artikels über die Boxer auf dem Markt aus dem Kontext löst und sie für sich stehen lässt, dann rumpelts in der Schädelkiste.

„Wie jedes Jahr freuten sich die Faustkämpfer des BC Greifswald wieder auf den Einsatz beim Präventionstag. Ganz stolz trugen sie dabei ihre T-Shirts mit der Aufschrift […] „ Ich spreche deine Sprache“. Selbst die Jüngsten, nämlich zwei süße Mädchen, zeigten schon, dass sie wissen, wie man die Fäuste gezielt einsetzt. Es ist schon schön, so manchem unentschlossenem Jugendlichen zu zeigen, was man so in seiner Freizeit alles anstellen kann, ohne negativ aufzufallen.“

Boxen Präventionstag Greifswald

Vom abendlichen Karat-Konzert war außerdem ein Video in miserabler Qualität – nicht nur was Ton und Bild angeht – auf der berühmtesten Video-Plattform der Welt zu finden.

Bin ich froh, dass das Leben in Greifswald durch die Arbeit des Präventionsrates so viel sicherer geworden ist. Auf dessen Internetpräsenz erfährt man auch, dass Prävention in Greifswald erstens auf solidem Fundament steht und sich zweitens sehen lassen kann. Na dann hoch die Tassen!

Präventionstag schon wieder im Vergeigen begriffen

Puhdys, City oder Karussell haben offensichtlich am 10.September keine Zeit, wenn mal wieder zur eintägigen Prävention geladen wird. Deswegen springen Karat ein. Wer wurde noch nicht von einer miesen Party mit dem Gassenhauer „Über sieben Brücken mußt du gehen“ vergrault?

Ich kann nicht müde werden zu betonen, dass solche Künstler an den Rezeptionsgewohnheiten der angeblichen Zielgruppe vorbeigehen. Da scheinen EntscheidungsträgerInnen ihre Jugend noch einmal blühen zu lassen. Pfui Spinne!

Die Scorpions kommen

Es geht immer noch schlimmer. Die Sparkasse wird im Mai eine Aktionswoche gegen Rechts ausrichten. Die klassische Zielgruppe solcher Maßnahmen sind normalerweise ja Jugendliche und junge männliche Erwachsene, die nach rechts abzudriften drohen.

Macht es Sinn, in diesem Rahmen eine gealterte Rockband zu buchen, deren Zenit seit 15 Jahren überschritten ist? Macht es Sinn, die klassische Zielgruppe solcher Maßnahmen durch einen Eintrittspreis von 25€+ auszuschließen?

Macht es Sinn, immense Gagen für einen einzigen Künstler auszugeben? Ich denke nicht.