Ein Gastbeitrag von Einheitsdave und Vincent Stoa
„Nie gehört! Was soll das denn für ein Magazin sein?“ Das Kartenabreißweiblein taxiert uns mit misstrauischen Blicken, als wir ihr unseren selbstgebastelten Journalistenausweis entgegenstrecken. „dein.stadtmagazin, der Greifswald-Guide, der Wissen schafft! Noch nie davon gehört? Wir haben doch vorhin extra mit der Agentur telefoniert!“, entgegnen wir, verzweifelt um eine entspannt-selbstsichere Haltung bemüht. Sie lässt uns passieren, und wir machen uns auf den Weg ins Innere der Stadthalle, wo bereits hunderte von Gästen der bevorstehenden Veranstaltung harren.
IN DER HÖHLE DES LÖWEN
Reiner Calmund, so versprachen die Plakate der WVG, käme nach Greifswald. Um geschlagene zwei Stunden darüber zu referieren, ob man Fußball und Wirtschaft miteinander vergleichen könne. Seit Wochen schon verfolgte uns sein bübisch grinsendes Konterfei bei all unseren Stadtgängen.
Wir mischen uns unter die munter brabbelnde Masse im Foyer, die zwischen Sektausschank und Signiertisch wabert. Jeder einzelne von ihnen hat knapp siebenundzwanzig Euro ausgegeben für — ja, für wen eigentlich? Unser bisheriges Leben haben wir so fußballfrei wie nur irgend möglich gehalten. Vincent erinnert sich: „War im Schulunterricht mal ein Turnier angesagt, verwendete ich alle meine Bemühungen darauf, keinen Ball an den Kopf geschossen zu bekommen. Einem Amerikaner könnte ich auf einem Bierfilz wohl noch eher die Heisenbergsche Unschärferelation als die Abseitsregel erklären. Und selbst beim Tischkicker versage ich jämmerlich und war ernsthaft erstaunt, als mir jemand vor kurzem erklärte, das man mit den Stangen nicht wild herumwirbeln dürfe.“
(Bild: event-greifswald)
Und jetzt Reiner Calmund. Ein ausrangierter Fußballfunktionär, den man, so verrät seine Homepage, auch für Lobreden und lauschige Kaminabende (10–50 Personen) buchen könne. Rheinische Frohnatur. Omnipräsente Werbefigur, mit der man sowohl für Genuss als auch für Verzicht wirbt. Von Harald Schmidt geschmähter Wanst-Träger. Ein hünenhafter Hitzkopf, der selbst durch Valium und Betablocker nicht zu betäuben ist. Wir wenden uns an die uns umstehenden Gäste und fragen sie, was in aller Welt sie an diesem lauen Mittwochabend in die Stadthallen treibe. Die Antwort ist stets die gleiche: „Weil er eben ein Prominenter ist.“
Wir nehmen unsere Plätze im nahezu ausverkauften Kaisersaal ein. Neben uns die vermeintlichen Kollegen. Man wirft sich anerkennende Blicke zu. Doch dann ist jeder auf seinen Schreibblock fixiert. Kurz reiben wir uns die von Lokalwerbung geblendeten Augen (Sportgeschäfte, Fitnessstudios), dann betritt ein sichtlich nervöser WVG-Vertreter die Bühne. Auf großer Leinwand verkürzt ein Vorstellungsfilmchen die Zeit. An uns zieht ein Leben vorbei. Stadionsprecher, Spieler, Trainer, Aufstieg und Fall, erste zweite dritte Hochzeit. Und dann, schlussendlich, nähert sich der so tosend Angekündigte höchstpersönlich dem Rednerpult. Vorsichtiger Applaus.
DER HEDONISTISCHE MÄRCHENPRINZ
Reiner Calmund packt es an. Er plaudert und poltert, flüstert und brüllt, scherzt und tadelt. Er gibt sich als weltgewandter Allround-Experte; hat zu jedem Thema einen munteren Spruch auf den Lippen: Joey Kelly, Ordnung am Schreibtisch, die Eurokrise und der liebe Gott. Nischt immer nur labern, einfach mal machen! Ziele setzen, Ziele verfolgen, Ziele erreichen! Hinfallen darf man, aufstehen muss man!
Sein Vortrag ist ein Potpourri aus blumig formulierten Universalfloskeln. Zwischendurch streut er dann mal wieder eine Fußball-Anekdote ein. Oder ein Witzchen über sein Körpergewicht. Bereits nach einer Viertelstunde pegelt sich unser Gefühlshaushalt irgendwo zwischen Neid und Sehnsucht ein. Reiner Calmunds Weltanschauung mag einfach gestrickt sein, doch sie funktioniert. Bei ihm gibt es keine Existenzangst, keinen Weltschmerz, kein unüberbrückbares Zerwürfnis des menschlichen Seins. Er ist ein hedonistisches Idealbild, ein Lebemann wider den Magerquark-und-Körnerfutter-Zwang. Er ist traurig, wenn Leverkusen abstiegsgefährdet ist. Er ist glücklich, wenn er thailändischen Waisenkindern helfen kann. Den Jahren mehr Leben geben, und nicht dem Leben mehr Jahre!
Calli weiß, wie der Hase läuft. Mit Hilfe seiner Powerpoint-Präsentation erklärt er den Zuschauern die Problemlage des FC Hansa Rostock, die Häkchenpolitik der Internet-Reiseanbieter und das Erfolgsgeheimnis der Greifswalder WVG. Jeder kann von Reiner Calmund lernen.
FAULE ÄPFEL, TRAURIGE FÜRZE
Kompetenz. Das heißt, eine Wahl zu treffen. Auch mal unpopuläre Entscheidungen durchboxen. Sport ist ein Geschäft und Fußball eine Premiummarke. Sportlicher und finanzieller Erfolg gehören zusammen. Und dann beginnt Calmund für einen kurzen Moment zu träumen. Hätte er das Geld, würde er sich auch einen Club kaufen, wie gewisse Industriemagnaten. Doch Calli sieht sich auch so als „Teil der Erfolgsgesellschaft“. Er mimt den deutschen Donald Trump in der Sendung Big Boss. Er transformiert sich von Bolzplatzstar mit Kultcharakter zur Werbefigur mit Fußballhintergrund und bleibt doch derselbe, der seinem Freund erst am Tag der Hochzeit sagt, dass er ihn zum Trauzeugen auserkoren hat und ihn noch im Trainingsanzug vor den Traualtar schleppt.
(Zeichnung: Vincent Stoa, CC-Lizenz)
Alle Kompetenz sei jedoch ein trauriger Furz, wenn man nicht mit Leidenschaft bei der Sache ist. Blutleere Experten, notorische Nörgler, griesgrämige Pessimisten und behäbige Chefbedenkenträger gehen für ihn gar nicht klar. Schon ein einziger solcher Schubladenbewohner zieht zehn andere mit in den Sumpf. Da hilft nur eins: Stecker aus dem Arsch oder in die Tonne feuern. Ein fauler Apfel und der Korb ist hin. Er gestikuliert wüst. Er schlägt die Faust in die Hand und den Nagel in die Wand. Wer etwas erreichen will, muss Dreck fressen. Und das heißt für den kleinen Mann: Auch mal eine 60-Stunden-Woche hinnehmen. Und nicht so viel motzen, immerhin ist der Arbeitsmarkt kein Wunschkonzert. Vereinzeltes Stirnrunzeln aus dem Zuschauerraum.
DIE CALMUNDSCHE METAPROMINENZ
Das interessanteste an Reiner Calmund ist aber: Er fristet ein Dasein in vollständigem Selbstbezug. Die längst verstrichenen Zeiten als Fußball-Leithammel dienten eher als Fuß in der Tür zum Tempel des Ruhms. Seine heutige Popularität begründet sich hauptsächlich auf die gewitzte Vermarktung seiner eigenen Person als Universalmaskottchen. Er verkauft, wie er sich verkauft. Egal, ob er gerade Yogurt-Gums anpreist, auf Spendengalas auftritt oder die Hauptrolle in seiner eigenen Abnehmshow spielt — seine Marketingstrategie ist seine Marketingstrategie. Und die lautet bei ihm stets: Bedingungslose Authentizität. Gerade den eigenen Schwächen räumt er einen zentralen Platz in seiner Öffentlichkeitsarbeit ein, was seine Widersacher von vornherein dumm dastehen lässt.
So macht er etwa keinen Hehl daraus, dass er sich für völlig überbezahlt hält. Der Krankenschwester auf der Intensivstation, der würde er viel eher derart üppige Gehälter zugestehen. Aber so läuft der Laden eben nicht. Reiner Calmund weiß: Seine Existenzgrundlage ist nun mal der Medienzirkus. Gerade diesen betrachtet er aber mit einem gewissen Fatalismus: „Ihr würdet die Kiste ja selbst dann noch anschalten, wenn wir im Fernsehen nur noch auf eine Trommel hauen und Uh-Uh! schreien würden!“
Noch deutlicher wird dieses Prinzip bei seiner offensichtlichsten Schwäche: der eigenen Fettleibigkeit. Herr Calmund ist sich bewusst, dass er ohne sein ausladendes Äußeres nur ein dürrer Strich in der Medienlandschaft wäre. Deswegen jagt auf seinem Vortrag auch ein Dicken-Witz den nächsten. „Wenn ich nach Thailand fahre, denken die ja gleich, der Buddha wäre wieder da“, witzelt er, und der ganze Saal prustet vor Lachen. Der Scherzkeks aus dem Zuschauerraum, der bei der anschließenden Fragerunde Calmunds Körpergewicht in Tonnen umrechnet, erntet dagegen nicht mal ein müdes Lächeln.
„Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen“, klärt er uns auf. Und schreitet aus dem Saal.
wie langsam müssen dann die gewesen sein die er gefressen hat? :C
„Unser bisheriges Leben haben wir so fußballfrei wie nur irgend möglich gehalten.“ nach dem Satz habe ich aufgehört zu lesen
ein schöner text rund um die frage „tut calmundmund nun wahrheit kund?“.
schon allein aufgrund der schmähhaltung gegen den debilen jungsdeppensport fußball hat dieser text meine vollste liebe…
…verdient, geerntet oder was man da für ein wort jetzt ranhängen müsste. aber „verdienen“, „ernten“, „kassieren“ – das sind ja auch schon wieder böse boshaftigkeitswörter aus dem themenfeld der kapitalismusnahen grundannahme, dass nur die geilsten, derbsten, dicksten und eben schnellsten kackmacker nach oben kommen, was calmund ja offenbar, in seinem tschaka-du-packst-das-vortrag für streberwillis und kampfgeistige klassensprechernulpen herausarbeiten wollte.
wieso nicht mal auch mal (immer ganz viel mal machen, mal!) mal vorträge zur anstrengenden langweil- und -wierigkeit des alltäglichen rumgekräpels? in der stadthalle, eintritt nur siebenundzwanzigtausend mark. kommen sie und lernen sie zu verlieren.
„debilen jungsdeppensport fußball“ – trotz (oder vielleicht gerade wegen) aller intellektueller verkrampftheit kommt die hillersche multiperspektivität wohl seit jahren zu kurz, was? gott, bist du mir sympathisch!
doch noch schwach geworden?
nein, lese nur die kommentare
was ist hillersch?
und so „intellektuell verkrampft“ (ich hoffe ich habe die „l“ richtig gesetzt…) finde ich den text hier gar nicht… ist doch munter und lebendig, eben „keck“ geschrieben, wie so bodeständerschlichte leute wie ich es nennen würden.