Eine Theaterkritik von Florian Leiffheidt
Lange musste man als Besucher des Schauspiels am Theater Vorpommern warten, um eine ausverkaufte Premiere wie die des Musical-Klassikers Anatevka, die am vergangenen Samstag stattfand, erleben zu können. Ein volles Haus, ein ausgelassenes Publikum, eine muntere Premierenfeier — was war geschehen?
Man nehme eine bereits vorhandene Inszenierung (Dirk Löschner — die Inszenierung ist bereits in Stendal erfolgreich gespielt worden), kombiniere sie mit der Popularität des Stückes und seiner eingängigen Melodien, und stelle schließlich einen Statistenchor von circa dreißig Personen zusammen — fertig ist der große Wurf! Dieser blieb jedoch aus, bei aller Freude für das Ensemble, das endlich wieder vor vollem Hause brillieren konnte.
TRADITIONELLE INSZENIERUNG — SPANNENDES SETZKASTEN-BÜHNENBILD
Löschner inszeniert die Geschichte des jüdischen Schtetl Anatevka, seiner Bewohner und ihrer Schicksale, ohne große Änderungen oder zeitliche beziehungsweise örtliche Versetzungen vorzunehmen — glücklicherweise, wenn man an die zweifelsohne gescheiterte Inszenierung zu Beginn seiner Intendanz zurückdenkt. Man sieht traditionelle Kostüme in einem nicht ganz traditionellen Stadtbild. Das Bühnenbild (Christopher Melching) präsentiert eine Stadt samt ihren individuellen Einwohnern als Setzkasten mit wechselnden BeSETZungen. Dieses Bild erscheint im Fortgang der immer beklemmenderen Handlung nicht nur logisch, sondern sorgt auch für herrliche Stimmungsbilder.
Vor dieser Kulisse wird zu herrlicher Musik (Arrangement: Gero Wies; Musikalische Leitung: Sebastian Undisz) gesungen und eine eigens für diese Inszenierung zusammengestellte Klezmer-Band spielt in wunderbar ergreifender Weise auf.
EINE GESCHICHTE DER TRADITIONEN — GELUNGENE ENSEMBLELEISTUNG!
Das Stück entführt uns ins Russland des Jahres 1905, die Zeit am Ende des Zarenreiches: eine Zeit voller Umbrüche, in der Traditionen hinterfragt und abgelegt werden — was der arme Milchmann Tevje (Gastschauspieler Manfred Ohnoutka) am eigenen Leib erfahren muss. Seine drei Töchter brechen mit den gegebenen und seit Jahrhunderten vorherrschenden Traditionen bezüglich Liebe und Heirat — mit schließlich dramatischen Folgen für die Familie. Doch im Stück wird nicht nur die Frage nach der Beständigkeit von Tradition thematisiert; es stellt vielmehr auch den Antisemitismus im zaristischen Russland in drastischen — keinesfalls aber überzogenen — Bildern dar. Pogrome und Drangsalierungen lassen die aufkommende Bedrohung spüren, besonders in der zweiten Hälfte der Aufführung. Dies gelingt nicht zuletzt dank der wunderbaren Leistung des gesamten Ensembles auf der Bühne.
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Da sind die drei Töchter Tevjes — Zeitel (Frederike Duggen), Hodel (Gastschauspielerin Lena Wischhusen) und Chava (Susanne Kreckel) — welche sich über den Willen ihres Vaters hinwegsetzen und einen armen Schneider (Sören Ergang), einen Gastlehrer (Felix Meusel) und schließlich einen nichtjüdischen Russen (Gastschauspieler Georg Koball) heiraten. Da ist die schrullige Heiratsvermittlerin Jente (wunderbar schroff wie witzig: Claudia Lüftenegger), welche ständig auf der Suche nach möglichen Heiratsvermittlungen — selbstredend mit einer guten Provision verbunden! — zu sein scheint und keine Gelegenheit auslässt, vermeintliche Neuigkeiten in die Welt zu setzen. Da gibt es den Wirt, den Buchhändler, den Bettler, den russischen Wachtmeister, den Rabbi, da gibt es … — die so üppige Besetzungsliste erschwert eine detaillierte Bewertung der schauspielerischen Einzelleistungen ungemein. Umso mehr muss man die Leistung des gesamten Ensembles würdigen, dem es gelungen ist, sein Publikum in ein kleines entlegenes Dort in einer längst vergangenen Zeit zu entführen.
Schließlich bleibt ein Geiger auf der Bühne, als einziger im Dorf, als Verbliebener. Er spielt weiter — ebenso wie das Ensemble in der vergangenen Zeit weiterspielte, trotz teilweise schlecht gefüllter Säle. Und so kann man getrost nach dieser gelungenen Premiere, trotz des Ausbleibens eines großen Wurfes, sagen: „Mazel Tov!“
Anatevka
Buch von Joseph Stein, Musik von Jerry Bock
Musikalische Leitung: Sebastian Undisz
Inszenierung: Dirk Löschner
Bühne und Kostüme: Christopher Melching
Choreographie: Maurizio Gianetti
Dramaturgie: Dr. Sascha Löschner
Termine in Greifswald: 2. März, 18:00 Uhr (Großes Haus)
Infos und Karten: Theater Vorpommern
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Nach einer mittelmäßigen Inszenierung klingen deine Aussagen für mich nicht, das was du als „großen Wurf“ vermisst, ist nicht schlüssig nachvollziehbar.
PS Der angebliche Setzkasten ist doch wohl eher eine Bildersammlung …
Das ist genau die Frage, die auch ich mir stelle: Warum ist diese Inszenierung denn nun gerade kein großer Wurf – vulgo nur besseres Mittelmaß? Doch nicht etwa nur die Tatsache, dass der Autor dem ungeliebten Intendanten keinen Triumph gönnen mag?