Die Wahl des Grünen Stefan Fassbinder zum Greifswalder Oberbürgermeister galt im Mai als kleine Sensation und droht nun, zu einer Provinzposse zu verkommen. Ein Artikel in der ZEIT könnte nun dafür sorgen, dass das Nachwahldebakel nochmal bundesweit Aufmerksamkeit erfährt.
Wer die ZEIT abonniert hat, ist heute vielleicht selbst schon über die Fußmatte gestolpert; das wird in Greifswald ja inzwischen zur Mode. Allen anderen bleibt der Weg zum Zeitungskiosk des Vertrauens oder ein Klick rüber zur Online-Abteilung, um einen Blick in die aktuelle Ausgabe zu werfen. ZEIT im Osten widmet sich heute dem präzedenzlosen Dilemma der Greifswalder Oberbürgermeisterwahl, die der Gemeinschaftskandidat Stefan Fassbinder im Mai mit einem winzigen Vorsprung von 15 Stimmen für sich entscheiden konnte.
Den kurzweiligen Artikel über den Fußmatten-Skandal verfasste Gabriel Kords, der seit Jahren die Kommunalpolitik der Region journalistisch begleitet und die Geschichte für die Leserinnen der ZEIT aufbereitet hat — nicht nur die Geschichte über die Unregelmäßigkeiten bei und die Einsprüche gegen die OB-Wahl, sondern auch jene vom kontinuierlichen Machtverlust der hiesigen Christdemokraten und deren Bemühungen, diesen Trend zu stoppen. In lockerem Ton geht es von Hochschild bis nach Hochheim einmal durch die Greifswalder Kommunalpolitik und zurück.
Stürzt darüber ein Politiker? (DIE ZEIT, 06.08.2015)
Trotz des Wahlsiegs ist Stefan Fassbinder noch nicht am Ziel. Gegen seine Wahl zum Greifswalder Oberbürgermeister sind drei Einsprüche eingegangen, über deren Gültigkeit am Montag die Bürgerschaft abstimmen wird. Vielleicht entscheidet aber auch ein Gericht über Greifswalds neuen OB.
Bei der Stichwahl am 10. Mai setzte sich der gemeinsame Kandidat eines Vier-Parteienbündnisses, Stefan Fassbinder (Grüne), mit einer hauchdünnen Mehrheit von 15 Stimmen gegen den amtierenden Baudezernenten, Jörg Hochheim (CDU), durch. Doch Oberbürgermeister ist der promovierte Historiker trotz des für hiesige Verhältnisse historischen Wahlsiegs noch nicht, denn bis zum Ende der Einspruchsfrist sind drei Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl eingegangen.
Der erste Einspruch erreichte die Wahlleiterin am 19. Mai und stammt von einem Bürger, der sein Wahllokal wegen einer verschlossenen Tür nicht erreichen konnte und später wiederkommen musste, um seine Stimme doch noch abgegeben zu können.
Die anderen beiden Einsprüche folgten eine Woche später. Zunächst erhob der unglückliche Wahlverlierer Jörg Hochheim (CDU) — um nicht den Eindruck zu erwecken, einen Stellvertreter für sein Anliegen vorgeschickt zu haben — selbst Einspruch wegen der zwischenzeitlich geschlossenen Tür des Wahllokals.
Am selben Tag erreichte die Wahlleiterin auch ein Fax von Rechtsanwalt Jörg Sievers, Vorstandsmitglied des Wirtschaftsrates der CDU-Sektion Greifswald/Ostvorpommern. Sievers begründet seinen Einspruch gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl nicht mit der verschlossenen Tür, sondern mit einem vermeintlichen Verfahrensfehler: In einem Wahllokal sei die Wahlberechtigung nur durch Vorlage einer Wahlbenachrichtigung und nicht durch die Überprüfung des Ausweises festgestellt worden.
Drei Eingänge, eine Klingel, viele Besucher — keine Chance!
Der Wahlvorstand hat sich nach einer Vorortbesichtigung des Wahllokals 93, das zwischenzeitlich nicht erreichbar gewesen sein soll, positioniert. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, dass das betroffene Gebäude über insgesamt drei Zugänge verfüge. Der dort als Zugang gekennzeichnete Nebeneingang sollte durch eine verkeilte Fußmatte offen gehalten werden, die im Laufe des Vormittags entfernt worden sei. Eine Wählerin, die über den „recht gut einsehbaren“ Terrasseneingang ins Wahllokal gelangte, habe auf dieses Problem aufmerksam gemacht.
Der Zutritt zum gekennzeichneten Eingang soll daraufhin sofort wieder ermöglicht worden sein. Einen „merklichen Bruch in der Wahlhandlung“ soll es nicht gegeben haben, auch lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass weitere Wähler an der Wahlhandlung gehindert worden wären. Weiterhin wird angemerkt, dass an der zwischenzeitlich verschlossenen Tür eine Klingelanlage installiert ist. Zudem war die Wohnanlage, in der sich das Wahllokal befindet, am Tag der Stichwahl (Muttertag) von einer erheblichen Besucherzahl frequentiert, so dass ein Wahlberechtigter sogar über den Haupteingang hätte Zugang finden oder sich anderweitig bemerkbar machen können, heißt es in der Stellungnahme weiter.
Wahlleiterin Petra Demuth stellt vor dem Hintergrund des zeitweilig eingeschränkten Zugangs eine Unregelmäßigkeit der Wahl fest, hält es jedoch für fraglich, ob dadurch bereits eine Beeinflussung des Wahlergebnisses eingetreten sein kann.
Dass am Wahlsonntag mehr als 15 Wähler in dem Zeitraum, als die Tür verschlossen war, an der Ausübung ihres Wahlrechts im Wahllokal 93 gehindert gewesen sein könnten, welche sämtlich ihre Stimme für Herrn Hochheim abgegeben hätten, findet Demuth höchst unwahrscheinlich. Weiterhin sei es auch unwahrscheinlich, dass keiner dieser theoretisch vor dem verschlossenen Wahleingang stehenden Wahlberechtigten die Möglichkeiten einer Zugangsverschaffung mittels der Klingelanlage, über den von den übrigen Hausbesuchern recht stark frequentierten Haupteingang oder über den seitlichen, gut einsehbaren Terrasseneingang gewählt habe — oder aber im Zweifel, so wie der Einspruchsführer, zumindest im Laufe des Tages noch einmal zum Wahllokal 93 zurückgekommen wäre.“
Zum Einspruch des Rechtsanwalts Sievers verweist Demuth auf die geltende Landes- und Kommunalwahlordnung, derzufolge eine Ausweisprüfung nur zu erfolgen habe, wenn Zweifel an der Identität des Wahlberechtigten bestehen.
Entscheidet die Bürgerschaft oder das Gericht über die Einsprüche gegen die OB-Wahl ?
Wie mit den drei Einsprüchen nun verfahren wird, entscheidet zunächst die Bürgerschaft auf ihrer Sitzung am kommenden Montag. In der Beschlussvorlage 06/361 stellt die Wahlleiterin drei Entscheidungsvorschläge zur Debatte: Die Einleitung eines Wahlprüfungsausschusses in folgender Besetzung: CDU (4), DIE LINKE (3), SPD (2), GRÜNE (2), AfD (1), BG (1), KfV (1), PIRATEN (1), die Zurückweisung der Einsprüche, oder eine Neuwahl. Eine ausschließliche Wiederholung des Votums einzig in dem betroffenen Wahlbezirk sei wegen der Briefwählenden nicht möglich. Eine Wiederholung der Stichwahl würde laut Demuth voraussichtlich 30.000 bis 40.000 Euro kosten.
In welchem Maß die Kosten eines erneuten Urnengangs auch zulasten der Idee der demokratischen Repräsentation im Falle einer Neuwahl ausfallen werden, ist Abwägungssache und im Einzelfall streitbar. Die Möglichkeit, wegen Unregelmäßigkeiten Einspruch gegen die Gültigkeit einer Wahl einzulegen und dafür im Zweifel auch ein Gericht anrufen zu können, ist essentieller Bestandteil dieses Rechtsstaats. Gleichwohl wird durch den unangemessenen Gebrauch dieses Rechts das abgegebene Votum der übrigen Wahlberechtigten entwertet.
Angesichts der ohnehin erodierenden Wahlbeteiligung bei der Greifswalder Oberbürgermeisterwahl drängt sich aus dieser Perspektive die Frage auf, ob eine Neuwahl die Legitimität des zukünftigen Oberbürgermeisters erhöhen wird oder ein abermaliger Urnengang zu einem noch weniger repräsentativen Ergebnis und dem Verdacht, dass solange gewählt werde, bis das Resultat stimmt, führen würde.
In der Facebook-Gruppe „Was Greifswalder bewegt“ wird ein Gerücht aus „zuverlässiger Quelle“ über die Position der Greifswalder CDU zur zitierten Beschlussvorlage kolportiert, dem zufolge die Christdemokraten den Gang vor das Verwaltungsgericht planen würden — und dies sowohl für den Fall, dass die Bürgerschaft die eingelegten Einsprüche zurückweisen sollte, als auch dann, wenn ein Wahlprüfungsausschuss eingesetzt würde, der zu einem ähnlichen Schluss käme.
Das ist vorerst wohlgemerkt nur ein Gerücht, aber sollte es sich bestätigen, dürfte wohl kaum jemand vom Greifswalder Stadtverband der CDU überrascht sein. Auf dem absteigenden Ast gibt es schließlich nicht mehr viel zu verlieren.
Die Stellungnahme der Wahlleiterin ist auf der Internetseite der Grünen und in der Beschlussvorlage der Bürgerschaft (PDF-Dokument, 0,18 MB) abrufbar.
Fünfzehn Stimmen Vorsprung für Stefan Fassbinder — knapper hätte das Ergebnis der Greifswalder Oberbürgermeisterwahl kaum ausgehen können! Greifswald kriegt einen grünen Oberbürgermeister und macht den ersten Schritt zum Freiburg des Nordens.
Mit einer hauchdünnen Mehrheit von nur fünfzehn (!) Stimmen hat Stefan Fassbinder, der als gemeinsamer Kandidat von Grünen, Linken, SPD und Piratenpartei gegen Jörg Hochheim (CDU) ins Rennen um die Wahl des neuen Oberbürgermeisters gegangen ist, die Wahl für sich entschieden. Bei der Stichwahl gegen den Baudezernenten erreichte der Historiker ein vorläufiges Ergebnis von 50,05 Prozent.
Jubel auf der Wahlparty von Stefan Fassbinder (Foto: Fleischervorstadt-Blog)
Die Stimmenauszählung glich einem Krimi, der kurz vor knapp, als nach 42 ausgezählten Wahlbezirken plötzlich Jörg Hochheim in Führung lag, seinen Klimax erreichte. Als das vorläufige Endergebnis über die Leinwand flimmerte, gab es in der Brasserie Hermann kein Halten mehr — der Wahlkampf hat sich gelohnt, die CDU ist abgewählt!
Die Wahlbeteiligung war mit 35,27 Prozent ähnlich schwach wie im ersten Wahlgang, so dass Stefan Fassbinder 8170 Stimmen reichten, um neuer Oberbürgermeister in Greifswald zu werden. 17,53 Prozent der Wahlberechtigten gaben dem Grünen ihre Stimme.
Im Friedrich, wo die CDU ihre Wahlparty feierte, dürfte die Stimmung indes gedrückt gewesen sein. Man hatte viel Geld in den christkonservativen Wahlkampf investiert — gerüchteweise sollen es mehr als 70.000 Euro gewesen sein. Mit Hochheim hatte man einen der moderatesten Vertreter der Partei aufgestellt, der durch seine Position in der Stadtverwaltung auch noch einen klaren Kompetenzvorteil mitbrachte. Dass das heute nicht ausreichte, dürfte nicht nur die Greifswalder CDU überrascht haben.
Wahlsieger Stefan Fassbinder wirkte von seinem Ergebnis etwas überrumpelt. Nachdem das vorläufige Ergebnis feststand, kletterte Greifswalds neuer Oberbürgermeister auf einen Stuhl, teilte den Anwesenden die Nummer seines Deckels mit und entschwand zu einem kurzfristig anberaumten Interview mit dem NDR. Die Nacht wird kurz, Greifswald ist auf dem Weg.
Ein Kommentar von Dominik Wachsmann zur Bürgermeisterwahl in der wahlkreisfreien Hansestadt Greifswald.
Das Wahlergebnis 2015 ist — wie bereits 2008 — ein Schlag ins (falsche) Gesicht, nämlich in das der Menschen, die Greifswald als ihr Zuhause betrachten und sich Veränderungen wünschen: Veränderungen in der Wohnungssituation, der Infrastruktur, dem Stadtbild, in den Bereichen Kultur und Bildung, auf dem lokalen Arbeitsmarkt etc.; mehr als genug Bereiche also, die jeden Greifswalder in irgendeiner Form tangieren.
SIE sind die 100 %
Sollte man denken. Die Summe der Menschen, die immerhin den Urnengang antraten und sich nicht für eine Weiterführung der CDU-Administrative begeistern, lässt sich auf genau 8651 beziffern. Immer noch mehr als bei den letzten StuPa-Wahlen — was in Ordnung wäre, würde in der Stadtverwaltung eine ähnliche personelle Fluktuation herrschen.
(beschmierter Wahlaufsteller von Stefan Fassbinder, Foto: Fleischervorstadt-Blog)
In Greifswald leben 46607 Wahlberechtigte. In die Dunkelziffer der Gesamtbevölkerung diffundieren über 12.000 Studenten, von denen nur wenige einen Teil der wahlberechtigten Bevölkerung ausmachen. „OB-Wahl 2015: Wahl ohne Beteiligung“ weiterlesen →
Morgen Nachmittag findet auf dem Greifswalder Marktplatz ein Flashmob statt, mit dem für die Beteiligung bei der OB-Stichwahl am kommenden Sonntag geworben wird. Um die Chance für den wichtigen Wechsel nicht zu vergeben und Greifswald gemeinsam mit Stefan Fassbinder solidarischer zu gestalten, führt der Flashmob geradewegs in das nahegelegene Wahlbüro im Rathaus: „Damit die Vision einer Stadt für alle auch durch die Verwaltungsspitze in Greifswald umgesetzt werden kann, brauchen wir euch an der Wahlurne. Deshalb treffen wir uns am Donnerstag um 13.30 Uhr auf dem Marktplatz vor dem Wahlbüro, um gemeinsam mit euch wählen zu gehen.“
Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU) gratulierte am vergangenen Montag seinem Parteikollegen Jörg Hochheim (CDU), der sich im ersten Wahlgang nicht deutlich genug gegen seine Konkurrenten Stefan Fassbinder (Die Grünen) und Björn Wieland (Die PARTEI) durchsetzen konnte, zur nicht überstandenen OB-Wahl: „Die Wählerinnen und Wähler von Greifswald würdigten mit diesem hervorragenden Ergebnis seine bisherige Arbeit als stellvertretender Bürgermeister. Jörg Hochheim wird sich in einer nun notwendigen Stichwahl am 10.05.2015 dem endgültigen Vertrauen der Wähler stellen. Hierfür wird die gesamte CDU Mecklenburg-Vorpommern noch einmal in den Tagen bis zur Stichwahl geschlossen kämpfen!“
Geschlossen kämpfen, das schließt offenbar auch ministeriale Unterstützung und einen überaus engagierten Innenminister Caffier mit ein, der den vor der Wahl veröffentlichten Terminplan über den Haufen warf und am Donnerstag nach Greifswald reiste, um dem amtierenden Oberbürgermeister Arthur König (CDU) die Genehmigung für den Doppelhaushalt 2015/16 zu überbringen — angeblich sogar mit einem Hubschrauber. Bislang hatte es gereicht, solche Dokumente mit der Post zu verschicken, aber in diesen Tagen lässt ein engagierter Innenminister nichts anbrennen und erklärt den Dokumententransport zur persönlichen Chefsache!
(Innenminister Lorenz Caffier, hier bei einer Plauderei mit Hochheim-Schwiegersohn und stellvertretendem CDU-Stadtverbandsvorsitzenden Franz-Robert Liskow (CDU) während der Eröffnungsfeier des Technischen Rathauses.(Foto: Fleischervorstadt-Blog, 2014)
Neben König waren auch Baudezernent Jörg Hochheim und Stadtkämmerer Dietger Wille (CDU) beim Empfang des Innenministers zugegen. Das sorgte für Verschnupfung auf Seiten der Grünen. Fraktionsgeschäftsführerin und Anwärtergattin Dr. Frauke Fassbinder wundert sich auf dem Grünen-Blog, warum nicht auch die Fraktionsvorsitzenden der Bürgerschaft eingeladen wurden: „Sie haben allemal mehr mit “Greifswalds solider Finanzpolitik” für die nächsten beiden Jahre zu tun als der Baudezernent. Denn letztlich war es die Bürgerschaft, die dem Haushalt den letzten Schliff gegeben hat und ihn in seiner jetzigen Form beschlossen hat…“
Es ist Wahlkampf, da wird natürlich um jede positive mediale Darstellung des eigenen Kandidaten und um jede euphorische Mitteilung bei Facebook geworben. Für Innenminister Caffier bedeutete das in diesem Fall einen zusätzlichen Ortstermin, den er kurzfristig — das heißt, nach Bekanntgabe des knappen Greifswalder Wahlergebnisses und der notwendigen Stichwahl — einschieben musste. Diese Kurzfristigkeit lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass der Besuch in Greifswald nicht bei den offiziellen Terminmeldungen vor der Wahl (PM-Nr. 76/2015) auftauchte, sondern erst in einem fast identischen Dokument, das am Dienstag nach der Wahl einfach nochmal unter der gleichen Nummer (76/2015) verschickt wurde, obwohl die Dokumentenzählung zu diesem Zeitpunkt bereits bei Nummer 81 war. Das lässt sich nur noch über Googles Webcache rekonstruieren, denn die Terminmeldungen 76/2015 wurden angepasst und aktualisiert.
Um es vorsichtig auszudrücken: Ein Zusammenhang zwischen dem spontanen persönlichen Besuch des Landesinnenministers beim OB-Kandidaten und der unmittelbar bevorstehenden Stichwahl am nächsten Sonntag, bei der es sehr knapp werden könnte, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.