Pop am Wochenende: Lumières Claires – „Please Don’t Focus On My Mistakes. Please Don’t Focus On My Mistakes. Reworks“

von Ferdinand Fantastilius

Es gibt Menschen, die rechnen die Produktionszeit ihrer Musik in Stunden, manchmal schon nur Minuten. Und es gibt Menschen, die schrauben Wochen, Monate, Jahre an der Entstehung ihrer Kunstwerke. Beiden — egal also, ob funktionalmusikalisch fokussierter Beatbastelei oder sogenannt analoger, inniger Ewigtüftelei — liegt das Potential zum Zweifeln und zum Scheitern inne.

Mut zum kreativen Makel, oder: Fehler als Antrieb

Die Patternschrauber schieben Stunde um Stunde an Effektknöpfen und Filterleveln umher, die Leute mit den echten Instrumenten sinnieren, jammen, eruieren und skizzieren nächtelang am vermeintlich perfekten Song. Und doch will es manchmal nicht gelingen. Irgendwas läuft krumm und schief, es schnurrt und groovt nicht, man kommt nicht richtig rauf auf den Gaul des genial-elementaren Daueraugenblicks — die eigene Idee, die sich im Kopf als zielführende Vision in Form eines anmutigen Einhorns festgesetzt hat, entpuppt sich als lahmer Esel, müde stolpernd, sturhufig herumeiernd, nach einer schöpferischen Rast japsend.

Lumieres Claires Susanne Moehring

(Foto: Susanne Möhring, keine CC-Lizenz)

Alle Arten kreativer Odysseen unterliegen letztlich dieser Möglichkeit zum musischen Schiffbruch. Jedoch, dies sind nicht etwa Fehler in irgendeinem System, es ist nichts Falsches daran — es sind die steinernen Hürden, die einen immer irgendwie weitermachen, weiterwuchten, ja manchmal weiterwüten lassen. Und hieraus entstehen sie: die glanzvollen Lichtmomente im Alltag der Irgendwiekunstschaffenden.

Hingabe an das schöne im Scheitern

Mit dem Leuchten und den vermeintlichen Fehlern beschäftigen sich auch die Lumières Claires. Im Januar 2009 veröffentlichte das lichtvoll benannte Folk-Duo aus Greifswald/Hamburg sein Album Please Don’t Focus On My Mistakes. Please Don’t Focus On My Mistakes. Die darauf enthaltenen zehn Stücke waren das Resultat mehrer Herbste, die böig ins hiesige Flachland fielen. Die Songs durften über Jahre reifen. Man hatte nebenbei schließlich auch andere Dinge zu tun — Studium, Nachtleben, Saufen, maulgusseiserne Hufbeschlagung der eigenen Adoleszenz, all sowas.

In kompletter Eigenregie wurden daheim die wildesten Kabelsalate aufgebaut, um alle Instrumente mit genau diesem Sound aufzunehmen, den die Lumières im Sinn hatten. Hölzern sollte es sein, das oft bemühte Wort der „Knarzigkeit“ kann man hier ins Feld führen. Knarzig im Sinne des Geräusches von arbeitendem Holz, wie das Gebälk der Greifswalder Laubenwohnung, in der die Aufnahmen stattfanden. Fehler – wie sie im Albumnamen, mit der Bitte, sich nicht auf sie zu fokussieren, genannt sind – waren, bei allem Perfektionismus, immer immanent und niemals verschwiegen. Gerade die menschgemachten Verschiebungen, Unreinheiten und minimalen Taktausfälle sind es doch, die der Musik ihr Leben geben.

lumieres claires kabel

(Foto: Nico Schruhl)

Die Lumières Claires beschäftigen sich jedoch nicht nur mit Fehlerhaftem beziehungsweise charmantem Stolpern auf musikalischer Ebene – ihre Lieder sind Ausdrücke einer Hingabe an das Schöne im Scheitern, an all die Ungeschicktheiten im Zwischenmenschlichen. Ihre Lieder geben ungesagten und bereuten Worten, zerstreuten Küchentisch-Briefen von der eigenen Ich-Insel, einen musikalischen Umschlag.

Im selbst gefertigten Siebdruck-Cover visualisierte sich das als Sprechblasen, die sich gegenüberstehen, jedoch auch kreuzen, überschneiden, ineinander versinken, sich Stücke von Erinnerung in ihrer Dopplung wiederholbar machen – mit allen impliziten Fehlern.

Der Titel ihres Albums deutet es schon an: ihre Musik ist „Frucht von gesunder Bescheidenheit und nährenden Selbstzweifeln“, wie es in einer Rezension heißt, die unter dem Titel Fehler richtig machen in der Kulturzeitschrift PNG – Persona Non Grata erschien. Die Lumières Claires sind Leuchtende und keine Blender.

Fehler richtig reinterpretieren

Nico Schruhl und Christin Schalko feiern die Fehler eben, wie sie fallen. In der Liedfolge des Originals werden die zehn Stücke des Albums nun, drei Jahre später, als Neuinterpretationen auf dem Album Please Don’t Focus On My Mistakes. Please Don’t Focus On My Mistakes. Reworks veröffentlicht.

lumieres claires reworks remix cover

Elf Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt — von Greifswald über Frankreich bis Japan — formen das Ausgangsmaterial hier zu eigenen Versionen um. Der Übertrag der verhuschten Folk-meets-Indieschlurf-Stücke der Lumières Claires in neue Kontexte und Klänge gelingt: Es gibt klassische Remixe im Alle-Viere-to-the-Dancefloor-Style, aber auch klassische Coverversionen im Songformat. Die Palette präsentiert sich in vielfältiger Streuung und geht weit über Handwerkstechno und Remix-Auftragsarbeit hinaus. Das umtriebige DJ-Duo Verschnibbt und Zugenäht eröffnet (nicht als DJs, sondern als Remixende) den Reigen der Reworks.

Ihr I förbigående Remix ist eine smoothfluffige Kontemplation in Sachen Afterhour-Housemusik. Wie tausend tiefe Tränen tänzeln die Vocalsamples von Nico Schruhl und Christin Schalko auf warmen Synthesizerklängen. Der Beat ist unaufdringlich aber treibend, wie das Knistern und Rascheln der auf einem ausgedehnten Strandspaziergang gesammelten Steine in der Hosentasche. Shiika aus dem japanischen Nagano spielte eine eigens komponierte Version am Piano ein. Ihre ebenso verhaltene wie verhallte Lofi-Variante von When You Rest changiert irgendwo zwischen dem Gemaunze von Coco Rosie und der abgründigen Theatralik einer Soap&Skin. Wie die gespensterhaften Schatten nächtlicher Blumen vor dem Fenster weht ihre Stimme über die flattrig-tröpfelnde Klaviergrundierung.

Lumieres Claires Remix

(Foto: Lumières Claires)

Huey Walker, selbst auch seit Jahren um klangliche, psychedelisch-ambiente Spleenigkeiten im Selbstvertrieb kreisend, nimmt in seinem Hummingbird Rework von Ellipsoid den Liednamen beim Wort und entfaltet in einer Spieldauer von achtzehneinhalb Minuten ein teils elliptisches, teils episches Konstrukt, das sich zwischen selbstverschluckenden Störgeräuschen und tropikalischem Rhodes-meets-Acid-Sweeps-Geklöppel bewegt. Steffen Hoffmann alias Milky Bear zaubert mit Theremin-Sounds und knisternden Nano-Percussions einen märchenhaften Schimmer, der in den treibenden Gitarrengrooves des Refrains zu strahlendem Frickelfeuerwerk kulminiert. Mit robotoiden Vocodervocals und retrofizierten Synthesizerflächen oszilliert sein Remix von Time Exposures irgendwo zwischen den losen Koordinaten Kraftwerk, Syd Matters und Kate Bush. Mit jedem Hören entspinnt sich dieses Juwel eines Remixes etwas mehr.

Vocodergrooves und Bleeps’n’Clonks

ALEXIS morpht das Stück #5 in seiner Version zu einem 8Bit-Bleeps’n’Clonks-Stampfer. Aufgedrehtes Bitcrush-Gestolper trifft auf den Drive der Chemical Brothers und wohlsortiertes Circuit-Bent-Chaos. Hier wird aus den Hosentaschenkieselsteinen eine schroff anbrandende Gerölllawine. Leonard Las Vegas — selbst einige Jahre in Greifswald solo und bei Jet Pilot tätig —  knüpft, obwohl er völlig andere musikalische Mittel verwendet, den spröden Drive weiter und interpretiert Declamatory Anthem in der für ihn typischen Indiecore-Variante. In seinem mit dem John Lennon Talent Award gekrönten Projekt vereint er blissful Shoegaze-Psychedelik von Bands wie My Bloody Valentine und Spacemen 3 mit dem zuweilen mathematischen Akkuratheits-Rock und der Arrangierfreudigkeit von Kollegen wie The Mars Volta.

Man merkt: das Reworks-Projekt der Lumières Claires kennt keine stilistischen Scheuklappen und sprengt Genre-Grenzen. Schon bei den Stücken des zugrunde liegenden Albums fanden sich elektronisch-experimentelle Spielereien und schroff-schiefschrötige Gitarrenskulpturen, die den folkmusikalischen Grundtenor weit über Schneidersitz und Lagerfeuer hinaustranszendierten.

Neuaufladungen und Urbarmachungen

Ebenso wie das Artwork zum Original-Album enstanden auch das Cover und das Booklet zur Reworks-Compilation in herzig-schnippeliger Handarbeit, wie der obige, eigens angefertigte Videotrailer — samt Reinhörproben in alle Stücke — anschaulich darlegt. Die Ästhetik des steingrauen Cardboard-Covers wurde für das vorliegende Remix-Album wieder aufgegriffen und präsentiert sich nun als weiß-auf-schwarze Grafik-Inversion des Originals. Und darum geht es doch bei Remixes, Reworks und Coverversionen — kurz: Reinterpretationen. Es geht um die kreative Neu- und Umdeutung, um die Weiterdenkung und Ausdehnung, um clever variierte Wiederholung von Bestehendem, um Aufladung und Urbarmachung kreativer Spannungsfelder und Soundäcker.

Lumieres Claires Greifswald

(Foto: Nico Schruhl)

Julie Corot setzt mit ihrer zarten Piano-Version von Strolling With Billy Pilgrim einen kontemplativen Mittelpunkt in den 12 Stücken des Albums. In ihrer herzigen Klavierminiatur beweist sie einmal mehr, dass man oft nicht mehr braucht als zwei Hände, ein Klavier und ein Herz aus Melodien, um wirklich berührende Musik zu schaffen. Ihre beispielsweise an Yann Tiersen denken lassende Version evoziert ein Kopfkonfetti aus Assoziationen, Farben und Bildern von naiver Schönheit, wie sie Michel Gondry in seinen frühen Filmen zu erwecken wusste. Aus den geröllernen Steinen werden hier Blätter aus Herbstgold.

Summende Sweeps und gewiefte Spleenigkeiten

Der Bekeschus Shuffle Edit von I’m So Boring And You’re So … reaktiviert die stampfenden Shuffle-Beats, die Kompakt aus Köln vor einigen Jahren mit ihren Schaffelfieber-Kompilationen en vogue machten. Sander Bekeschus entwickelt mit minimalem Samplingeinsatz einen ebenso schleppenden wie einfangenden Groove, der zugleich nach vorn zu stampfen und in seinen warmen Subbässen zu verweilen scheint. Summende Female-Vocal-Einsprengsel wuseln sich im hochfrequenten, durch orientalisch anmutende Klangmuster mäandernden, Teil des Tracks. Membrana Tympani arbeitet sich mit runtergepitchten Vocalfetzen durch eine Genregrenzen negierende Interpretation. Seine M.on.T.age von To Adelphos vereint die spröde Energetik von Dubstep, den scheppernden Stampf von Industrialbeats mit spacigen Stereo-Sweeps und den gewieften Spleenigkeiten eines Producers, der sich bis zum letzten Drehknauf an seinen Synthesizern und in seinen Plugins auskennt. Heulende Dubsirenen, Offbeat-Akkorde und schier unendliche Richtungswechsel verleihen dem Werk eine spektrale Vielschichtigkeit, die Schubladisierung schwierig und unnötig erscheinen lässt. Trotzdem ein Annäherungsversuch: als hätte Skrillex (Dubstep) die Einstürzenden Neubauten (Industrial) mit Air und Portishead (Space-Sweeps meet Melancho-Downtempo-Wumms) geremixt.

Wie tickende Wanduhren in fremden Herbergen

Nasko Georgiev aus dem französischen Lyon erweist sich unter seinem Alias Waterblip mit seinem Stück Walk On By (Waterblip Remix) als ebenso frickelfreudiger Produzentenfuchs. Moogy Arpeggio-Linien geben seiner Version einen Cosmic-Disco-Appeal, elegant wechselnd zwischen Dur- und Moll-Harmonien, die das weiche Kissenbett für die an Björk erinnernden Gesangssamples bilden. Philipp Priebe, seit vielen Jahren in Greifswald als Musiker und DJ nicht nur im elektronischen Metier tätig, nimmt sich des bisher unveröffentlichten Stücks Dive an und versetzt die beiden Gesangsparts von Christin und Nico in seinem „How Does It Feel Edit“ in einen hypnotischen Stereo-Kreisel.

Sein radikal entschlacktes House-Skelett nimmt die Hörenden auf hölzernen Claps’n’Ticks mit, in einen creepy-unterkühlten (H)albtraum, der in der Ferne auf warmem Synthesizerschimmern ein indifferentes Leuchten erahnen lässt. In seinem untergründigen Gloom und Glanz entwickelt der Track eine klaustrophobe Anziehungskraft, wie das Ticken einer Wanduhr in einer fremdartigen Herberge.

Bei aller Düsternis scheint hier aber auch Priebes Liebe zu den elektromusikalischen Romantizismen hindurch, wie sie die Patternvettern im Geiste, Lawrence, Efdemin, Carsten Jost und nicht zuletzt Christian Löffler zu entfalten wissen. Im August 2012 erschien Priebes EP Things Look Much Bigger On The Knees bei LunaTheCat Records.

Rekonstruktionsarbeiten am Licht

Den Abschluss der randvoll gefüllten CD bildet ein eigenes Stück der Lumières Claires. Die Originalversion von Dive hatte es damals nicht auf das Album geschafft. Mit etwas zeitlichem Abstand und einer neuen Mischung durch Membrana Tympani (der auch das vorliegende Remix-Album masterte) entwickelte Nico Schruhl das Stück nun zu neuer Reife und liefert im Mittelteil die einfangendste Endlos-Bridge seit Langem. Regelrecht hippiesk umspielen sich Sitar, Chöre und Gitarrenpickings über einem sich in kosmische Weiten walzernden Grundbass. Auch hier wurde nicht an Tiefenverliebtheit im Arrangement gespart – Tempowechsel, Andeutungen von schürfenden Feedbacks und am Ende sogar eine Ray-Manzarek-Orgel schummeln sich in den Track, um zum Schluss wieder in der sich ins Ohr schleifenden Leitmelodie der Gitarre zu landen.

Dieser gelungene Albumcloser lässt an den scheinbar mühelos hingeworfenen, rohdiamantenen Freistil-Psychedelikpop des mittleren John Frusciante denken. Man möchte sofort wieder bei Stück eins beginnen! Über die Stadtgrenzen hinaus wirkt die Small-Town-Superfolk-Band Lumières Claires mit diesem Reworks-Album für kreative Vernetzung und letztlich die Verwirklichung eines lange gediehenen, lichtumstrahlten Klangtraums. Als Bonus liegt dem limitierten Gesamtpaket das Original-Album bei. Das Booklet mit ausführlichen Liner-Notes gibt Einblicke in die Zusammenarbeit mit den Musikern und Künstlerinnen. Stefanie Hübners Malereien und Grafiken im Inneren des CD-Heftes zeigen ortlos anmutende, zugleich in sich ruhende, rastende, auf inneren und äußeren Reisen sich befindende Gestalten — eine wahrlich adäquate bildhafte Beistellung zum Kosmos der still bis funkelnd leuchtenden Reinterpretationen.

  • Lumières Claires bei bandcamp (Bestellungen der CD- und Digitial-Version möglich)
  • Musiktrip unter Freunden (Moritz-Magazin #98, 05/2012, S. 34 ff. (pdf-Dokument, 7,12 MB)

Please Don’t Focus On My Mistakes. Please Don’t Focus On My Mistakes. Reworks erscheint am 29. September 2012.

Pop am Wochenende: Wider den Prime-Time-Proletismus — Christian Löffler und seine rurale Elektromantik

Eine Musikbesprechung von Ferdinand Fantastilius

kolumne 17vier

„Eins-zwei-drei, jetz‘ mache‘ wa ’n Däschno – umpfz, umpfz, umpf, umpf“- schon vor 20 Jahren geisterten drollige Verulknudeleien dieses damals noch gar nicht so alten Musik- und Jugendbewegungsstils auf leiernden Mixkassetten durch die Jugendzimmer der Republik. Mittlerweile hat sich Techno tatsächlich zu einer, für jeden Menschen zugänglichen Eins-zwei-drei-aus-dem-Hut-Zauberei entwickelt. Wie jedes jugendkulturelle Phänomen droht auch Techno – als Sammelbegriff für Musik, die mit Mitteln elektronischer Klangerzeugung und kompositorischen Wiederholungsprinzipien angefertigt wird – in den grindigen Fingern des bösen Onkels Mainstream zu veröden.

Die olle Tante Techno ist mittlerweile ja nun auch nicht mehr die jüngste. Eigentlich ist sie längst tot und wird allwochenendlich von ganzen Horden aus Becks-Gold-Buben und puterroten Truthahngesichtern zu Grabe gestampft. Denn „Stampfen“ ist das neue Tanzen. In Minimalhausen verabredet man sich nicht zum Tanzen gehen, sondern zum „abstampfen“: Zugekokste Tanzaffen zotteln in Hypnose zum ewig selben Abgespule der Beatport-Hitlisten über den Dancefloor. Kopfnicker-Brieftauben beim Stuhltanz. Wer zuerst „Jawoll!“ schreit, fliegt raus!

An den zumeist digitalen Turntables leiern die DJ-Gibbons unter ihren Carharrt-Hoodies an den Jog-Wheels ihrer Steuerpulte herum, vor der Tür bohren die Schutzgorillas aus der Halbwelt ihre grimmigen Wachhaltermienen in die nach Feierei und Sause dürstenden Herzen der Wochenendausflügler, die Schlange stehen für den Einlass in die Parallelwelt des kontrollierten Überschwangs. Zur Party? Zur Party! Techno und Clubkultur sind längst so verwegen, wie aufgebohrte Motoradauspüffe und tätowierte Arschgeweihe – nämlich kaum noch.

Techno 2012: Zwischen Springbreak und SubversionE

Techno als Club- und Ausgehkultur glimmt ca. drei Dekaden nach seiner Initialzündung als duseliger Restglimmer seiner ursprünglichen Freisetzungskraft hedonistischer Ausbruchsimpulse aus dem durchformatierten Arschlochalltag. Vielleicht ist es auch nur ein Innehalten, eine Pause – die technische Innovation hat die Mittel und Methoden der Produktion und Rezeption quasi demokratisiert.

Wie in jeder Demokratie kommt dabei natürlich viel Langeweile und Vollschrott auf. Jeder noch so eingebildete Hobby-Avantgardist und Vollzeit-Redneck kann in gecrackten Mehrspursequencerprogrammen und beknackten Großraumdiscotheken seine nullachtfuffzehn Tracks und seinen Vier-Viertel-Verwegenheitslifestyle zusammenpopeln. Das Aussieben aus der Flut an Freizeitangeboten und musikalischen Veröffentlichungen rund um den Themenkomplex „Techno“ ist heutzutage geradezu eine Herausforderung.

electro party

Hier hilft nur, was rar geworden ist: eigene Meinung, interessierte Auseinandersetzung, forschende Fragerei, Gefühlskompetenz. Ausschweifendere Betrachtungen zum Thema Zeitgeist-Techno, dancefloorelle Volksverblödung und das Dauerfeuer der Identitätsstiftungsimpulse, das Tante Techno als Über-Pop-Prinzip auf all die armen leeren Menschenseelen draufballert, Überlegungen zum Spannungsfeld „Techno zwischen Subversion und Springbreak“ werden zu einem anderen Zeitpunkt folgen. Vorerst widmen wir uns jedoch der ländlich inspirierten Naturalelektronik des Christian Löffler, der auf erfrischend unaufgeregte Art und Weise jenseits von Jahrmarktminimal und Bloghypeeinereli musiziert.

Rurales Feel in Patterns gepinselt

Christian Löffler (Photo: Sarah Bernhard)Aus den verwiesten Weiten der norddeutschen Provinz kommt nun ein elegantes, geradezu kunstsinniges Album von Christian Löffler. Sein Langspieldebüt, A Forest, ist die logische Schlussfolgerung aus seinen vorangegangenen Arbeiten. Zahlreiche Tracks und EPs ebneten den Weg zu den 12 Stücken des Albums.

Christian Löffler schafft es, das zur leeren Worthülse degenerierte Attribut der „melancholischen Electronica“ für sich zu verbuchen. Jeder Dreiviertelhosenproll und jeder dahergescheitelte Hipsterstorch bezeichnet seine feierabendlichen Ableton-Gehversuche als irgendwie housy, lieblich-romantisch und voll verschnuffelt introspektiv. Vieles davon bleibt in Form von visionslosem Presetgefrickel im Stadium des Tutorialtechnos stecken.

(Foto: Sarah Bernhard)

Waldwummernde Gandalf-Grooves

Christian Löffler arbeitete immer schon eher abseits des alles abgeilenden Krawalltechnos der provinziellen Großraumdiskotheken. Er hat in den letzten Jahren das geschafft, was viele selbsternannte Producer in Ermangelung von Vision und Willen zum Sound oftmals vernachlässigen: er hat sich einen Trademark-Sound geschaffen. Seine Filter, Effekte und Klangerzeugungs-Plugins sind wohlgewählt und nie Voll-auf-die-Zwölf. Im organischen Zusammenspiel entfalten sie, wie ein Bienenstaat, ihren ästhetischen Sinn und ihre formale Qualität. Kein nervtötender Brummbass oder käsige Hook-Synthesizer krawallen sich in die Ohren der Zuhörenden. „Pop am Wochenende: Wider den Prime-Time-Proletismus — Christian Löffler und seine rurale Elektromantik“ weiterlesen

Film: „Blut muss fließen“

Der Dokumentarfilm Blut muss fließen (D, 2012, 87min) ist auf dreitägiger Tournee durch Mecklenburg-Vorpommern und wird heute Abend in Anwesenheit des Regisseurs Peter Ohlendorf im CineStar gezeigt.

Agitation mit musikgewordenem Hass

Ohlendorf begleitete den Undercover-Journalisten Thomas Kuban, der mit seiner versteckten Kamera in den vergangenen sechs Jahren auf rund 40 Neonazi-Konzerten drehte. Die zu Tage geförderten Eindrücke aus Rechtsrockhausen sind düster und erregen Besorgnis.

blut muss fliessen(Filmstill)

Ein Lied, das dem Journalisten bei seinen gefährlichen Recherchen immer wieder begegnete, ist heute der Titel des Films. Die 1989 gegründete Rechtsrockband Tonstörung ließ in Blut muss fließen ihrem Hass freien Lauf, das mitgrölende Publikum ist außer sich.

Wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig / Lasst die Messer flutschen in den Judenleib / Blut muss fließen knüppelhageldick / Und wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik / […] / In der Synagoge hängt ein schwarzes Schwein / In die Parlamente schmeißt die Handgranaten rein / Zerrt die Konkubine aus dem Fürstenbett / Schmiert die Guillotine mit dem Judenfett

Der auf der letzten Berlinale gezeigte Dokumentarfilm (Alternativer Medienpreis 2012 in der Kategorie Video) versammelt brisantes und einzigartiges Material, das einen schonungslosen Einblick in die subkulturellen Outputs der Neonazi-Szene ermöglicht, zumindest der Rechtsrock-Szene.

Neonazi-Konzerte auch in MV

Nazikonzerte finden auch in Mecklenburg-Vorpommern statt. Im vergangenen Jahr soll es offiziellen Angaben zufolge 26 rechtsextreme Musikveranstaltungen im nordöstlichsten Bundesland gegeben haben — die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen. Zuletzt spielte die neue Band Lunikoff Verschwörung des früheren Landser-Sängers Michael Regener beim Pressefest der Deutschen Stimme in Viereck bei Pasewalk.

blut muss fliessen nazis

Die Filmtour zu Blut muss fließen wird von den Jusos M-V in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung und Endstation Rechts organisiert. Bei der Vorführung gestern in Rostock soll es so voll gewesen sein, dass sogar Stehplätze verkauft wurden, pünktliches Erscheinen ist also angeraten! Die Veranstaltenden weisen darauf hin, dass „Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, der Zutritt zur Veranstaltung“ verwehrt wird.

  • „Blut muss fließen“ – Undercover unter Nazis (Publikative.org, 08.03.12)
  • „Blut muss fließen – Nazis undercover“: Filmemacher Thomas Kuban im Interview (Ruhrbarone, 09.08.12)

Fakten: 15.08. | 18 Uhr | Cinestar | 3 Euro

Pop am Wochenende: Krach – agil bis ins hohe Alter!

Die Reihe “Pop am Wochenende” versammelt Greifswalder Musikgeschichte und hält über das klangliche Gegenwartstreiben in der wilden Provinz auf dem Laufenden.

Gigantomanen der kleinen Stadt

Krach, die dienstälteste aktive Greifswalder Band, wollen dieses Jahr ihren Geburtstag öffentlich feiern und stecken offenbar bis zum Hals in den Vorbereitungen für ihr fünfzehnjähriges Jubiläum. Die Band kündigte unlängst an, diesen Anlass zu nutzen, um bislang liegengebliebenes Material, wie ihren Beitrag zur Inszenierung des Kleinen Horrorladens, zu veröffentlichen. Außerdem sollen einige neue Songs aufgenommen werden.

Erinnert man sich der — für hiesige Verhältnisse beinahe gigantomanisch inszenierten — Release-Party zum ihrem letzten Album, darf man darauf gespannt sein, was sich die Musiker für ihre Jubiläumssause am 19. Mai einfallen lassen werden. Dann wird sich auch zeigen, wieviel Interesse die Band in Greifswald noch auszulösen vermag, denn in den letzten Jahren ist es ruhiger um Krach geworden: Kinder wurden geboren, Wohnorte gewechselt, Prioritäten offenbar stückchenweise verschoben.

Krach Greifswald

(Foto: Krach)

Diese Entwicklung lässt sich auch am Publikum der Band beobachten, das in den letzten Jahren treu und nachgiebig mitalterte und darüber häufig die Stadt verließ. Vermutlich wurde die Release-Party auch deswegen auf das verlängerte Himmelfahrtswochenende gelegt im Mai. Sah man früher hierorts noch regelmäßig junge Menschen, die sich mit Hilfe textiler Devotionalien der Band gleichsam um Identität und Distinktion bemühten, so wurde diese Stelle inzwischen sehr erfolgreich von der wesentlich jüngeren Band Feine Sahne Fischfilet besetzt.

Zollt den Szene-Opis ihren Tribut!

Doch davon lässt sich die Band erstmal nicht aufhalten. Sie treibt ihre Vorbereitungen fürs Jubiläum und die Mehrfachveröffentlichung voran voran, wie man als Krachianer sagen würde. Den visuellen Rahmen der musikgewordenen Resterampe sollen dabei die Fotos bilden, die morgen im Museumshafen geschossen werden. Hierfür sucht die Band noch 50 bis 75 Freiwillige, die sich morgen Nachmittag gemeinsam mit den Musikern ablichten lassen. In ihrem Aufruf wird ausdrücklich daran appelliert, auch die Eltern oder Großeltern mitzuschleppen. Das ist gar nicht so weit hergeholt, denn Krach sind seit ihrer Gründung 1997 inzwischen sowas wie die Opis der Greifswalder Musikszene geworden und wie ein herzhafter Käse mit jedem verdammten Jahr ein gutes Stück gereift.

Wer der altersagilen Band die ihr zustehende Ehre erweisen möchte, sollte unbedingt ihrem Aufruf folgen und sich morgen mit Kind und Kegelverein im Museumshafen einfinden!

Fakten: 17.03. | 15 Uhr | Museumshafen (Pomeria)

Pop am Wochenende: the love „little snacks in between“

Die Reihe “Pop am Wochenende” versammelt Greifswalder Musikgeschichte und hält über das klangliche Gegenwartstreiben in der wilden Provinz auf dem Laufenden.

the love hannah schulze

Frau mit Hund beißt ins Klavier. Die Jungs kriegen einen Korb und den dazugehörigen Ball zum Herumspielen. Ein Selbstverletzungsschutz kräuselt sich am Hals des Mädchens hinauf. Ein bisschen Strobohobo, ein Ausschnitt der Totale. Alles fliegt — nur du nicht.

Little snacks in between heißt der Song, zu dem es seit kurzem auch ein Video gibt. Aufgenommen und produziert wurde beides von Hanna Schulze, die hierorts hauptsächlich als bildende Künstlerin in Erscheinung trat, sich aber schon seit einiger Zeit mit ihrem Solo-Musikprojekt the love ein neues Terrain künstlerischen Ausdrucks erschließt. Dabei entstehen düstere Dreampop-Landschaften, die in ihren größten Momenten wie Reminiszenzen an die New Yorker Band Blonde Redhead klingen.

DER WILLE ZUM DRAMA, DER MUT ZUR MANIE 

Alles in allem eine höchst fragile Angelegenheit, klagevoll und mit dem Willen zum Drama, der manchmal eben notwendig ist. Trotz aller Entschleunigung geht es plötzlich nach vorne und auch die manischen Momenten kriegen ihren Raum.

The love veröffentlichte bislang erst vier Songs bei Soundcloud. Auf ein mögliches Album wird also noch eine Weile zu warten sein. Bis dahin bleibt genügend Zeit, sich in eines der gegenwärtig interessantesten Projekte der Stadt zu verlieben. Welcome to Zwischenreich!

(Foto: Ausschnitt Filmstill)

Pop am Wochenende: Alex Megane “Gefühle”

Die Reihe “Pop am Wochenende” versammelt Greifswalder Musikgeschichte und hält über das klangliche Gegenwartstreiben in der wilden Provinz auf dem Laufenden.

Bewertete man Musiker allein anhand der Popularität ihrer Musikvideos auf dem Bewegtbildportal Youtube, so käme man zu dem Ergebnis, dass Techno-Trance-Chartpop-Produzent Alex Megane der kulturelle Exportschlager Greifswalds schlechthin wäre. Allein das dort präsentierte Gefühle wurde binnen eines Monats fast 54.000 Mal aufgerufen und bot Tausenden einen kurzzeitigen Realitätsfluchtplan in die Sonntagabendfilmwelt an – artifiziell, problembefreit und richtig happy.

DIE UNERTRÄGLICHE SEICHTIGKEIT DES SEINS

alex megane meine gefühleDas Video zu diesem Hit beginnt mit einer Kissenschlacht unter Verliebten, platziert in den koletzkihaft-reinen und vor allem perwollgewaschenen Morgengemächern des jungen Glücks. Anschließend wird der Schauplatz gewechselt und das Pärchen strahlt am Strand von Lubmin vergnüglich und unbeschwert vor sich hin, ehe lässig die blühenden Landschaften Ostvorpommerns mit dem Motorrad  erkundet werden. Kurzes Geschmuse mit der Muse auf dem Acker und pünktlich zum Sonnenuntergang wieder zurück am Strand – der Mann hat doch ein Bett im Kornfeld!

Der dramaturgischen Seichte des Videos steht das textuelle Fundament in nichts nach und nimmt uns auf eine sorgenfreie Reise mit nach Schlagerland zurück. Auszug gefällig?

Meine Gefühle spieln‘ verrückt
Ich könnt‘ explodiern‘ vor lauter Glück
Ich liebe das Leben, mein fantastisches Leben
Bitte hilf mir, sonst werd ich verrückt.

Ich liebe die Sonne, den Mond, das Licht
Ich liebe die Freude in deinem Gesicht
Ich liebe die Aura, die uns umgibt,
Wenn man sein Leben, wenn man sein Leben liebt.

(Textauszug Gefühle)

WILLKOMMEN IN DER SCHLAGERHÖLLE

Ebenso kantenfrei und weichgespült wummert und wohohoot auch das Songwriting vor sich hin: Das baumarktgerechte Soundgewand reißt längst ad acta gelegte Erinnerungen aus dem Schlaf und dreht nochmal die dröhnenden Autoradios auf, die einst an den Kreuzungen auf ihre Zuhörerschaft lauerten – mit unvorstellbarer Penetranz und nach Beachtung hungernd. Welcome to hell!