Mit nicht einmal drei Wochen Verspätung sollen noch ein paar Eindrücke der letzten Etappe des Anti-Atom-Trecks veröffentlicht werden. Am Karfreitag startete die rollende Demonstration vor dem Landtag in Schwerin und erreichte am Ostermontag ihr Ziel Lubmin.
Dort versammelten sich mehr als 1500 Menschen, die am Zwischenlager Nord vorbeizogen und ihrem Unmut über die Atompolitik des Bundes Ausdruck verliehen. Ein spontaner Schienenspaziergang demonstrierte die Bereitschaft, auch zukünftig gegen Atommülltransporte nach Lubmin zu protestieren. Das hervorragende Wetter tat sein Übriges zur guten Stimmung.
Die Ostsee-Zeitung ließ heute einmal wieder eine dpa-Durchhalteparole im Netz verlauten, die sicher auch Eingang in die morgige Printausgabe finden wird. Der abschwungs- und wirtschaftskrisengebeutelten Seele ist es Balsam – wir sind jetzt nämlich nicht nur Fahrradhauptstadt sondern außerdem die kreativste (kreisfreie) Stadt Mecklenburg-Vorpommerns!
Greifswald kreativste Stadt in MV
Gewonnen hat diese bahnbrechende Erkenntnis das rheinländische Beratungsunternehmen agiplan. Genau genommen wird die Stadt Greifswald weder in der Pressemitteilung des Unternehmens noch in der veröffentlichten Studie auch nur erwähnt. Kein Wunder, denn unter die besten Zwanzig kam die Hansestadt in keiner der durch die drei Indizes Technologie, Talente und Toleranz bestimmten Disziplinen.
Aufbauend auf den Arbeiten des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard Florida sind demnach die wesentlichen Elemente der Wettbewerbsfähigkeit einer Region Technologiekompetenz und die Ausstattung mit Talenten, aber „erst ein tolerantes Milieu, das dem Einzelnen ermöglicht, seine Individualität mitunter abseits des Mainstreams auszuleben, sowie ein internationales Flair, führen dazu, dass eine Stadt ein urbanes Klima entwickelt, das kreative Menschen anzieht.“
Ein lebendiger Eindruck dieser toleranten Atmosphäre ist wahlweise und in regelmäßigen Abständen in den Leserbriefen der Lokalzeitung und in den Pressemitteilungen der Greifswalder CDU-Fraktion erhaschbar.
Die von Florida sogenannte Kreative Klasse umfasst dabei nicht allein die kultur- und kreativwirtschaftlichen Erwerbstätigen, sondern alle kreativen Tätigkeiten im weitesten Sinn, also zum Beispiel auch Zahn- und Vermessungstechniker, Krankenversicherungsfachleute, Unternehmensberater, Rechtsvollstrecker, Polizeibedienstete, Krankengymnasten und Diätassistenten. Langsam wird die Schwemme der Kreativen nachvollziehbar.
Technologie und Talente ausblendend, soll an dieser Stelle insbesondere auf den Toleranz-Index etwas ausführlicher eingegangen werden. Er setzt sich gleichgewichtet aus dem – mit Daten der Künstlersozialkasse errechneten – Bohemian-Index (KSKler/Erwerbstätige) und einem Integrationsindex, welcher aus dem Ausländeranteil der Bevölkerung und den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien bei der Europawahl 2009 abgeleitet wurde, zusammen.
In den kreisfreien Städten wurde der Toleranzindex unter Einbezug eines Gay Index erneut berechnet. Dieser fließt zwar gleichberechtigt in die Rechnung ein, hat aber jenseits der geographischen Verteilung männlicher Homosexueller, die im sozialen Netzwerk GayRomeo angemeldet sind, keinerlei Aussagekraft.
Homohölle statt Gay-Community
All die Dinge, die nach Ansicht Floridas die Kreative Klasse zum Herzug beziehungsweise zum Hierbleiben bewegen könnten, sind in Greifswald mehr recht als schlecht – und dabei doch eher verkümmert als kümmerlich – ausgebildet. Die Kreativen wählen laut Florida ihren Wohnort: „Greifswald ist in MV Hauptstadt der „Kreativen Klasse““ weiterlesen →
Die Euphorie war groß damals – vor knapp acht Wochen -, als der Bau einer Diagonalquerung der Europakreuzung für Radfahrerinnen verlautbart wurde. Du bist Fahrradhauptstadt!
Ignoranten auf zwei Rädern
Keine zwei Wochen später, am 06. Mai, wurde in der Ostsee-Zeitung ein Leserbrief von Manfred Zielinski veröffentlicht. Der Greifswalder reagierte damit auf einen Artikel über den Bau des Verkehrsprojektes. Seine Reaktion — hier in verkürzter Fassung — ist so hitzig wie ablehnend:
„Wenn sich einige Radfahrer bislang das Recht herausnahmen, wider der gültigen Gesetze [sic!] die Radwege zu ignorieren und die Kreuzung diagonal zu queren, muss das doch nicht zum Recht erhoben werden, nur, weil sich Greifswald zur Radfahrerstadt erklärt. Ebenso könnte man ja die Fußgänger tagsüber aus dem Schuhhagen verbannen, nur damit die Ignoranten ungehindert durch die Fußgängerzone radeln können. Die Befürworter der Diagonalquerung sollten sich fragen, wo die Sparsamkeit anfängt und das Verschleudern von mehr als 100.000 Euro anfängt.“
Wohlgemerkt herrschte damals ein wenig Unruhe in der Stadt, weil die Kosten des Projektes Technisches Rathaus um mehrere Millionen Euro gewachsen waren. Wen interessieren angesichts solcher Fehlkalkulationen 100.000 Euro? Mich beschlich schon damals das ungute Gefühl, dass dieses Verkehrsprojekt nicht zustande kommen würde.
Von der Wirkungsmacht eines in der Ostsee-Zeitung veröffentlichten Leserbriefes überzeugt, konnte ich in den vergangenen Wochen mehrere Texte von Gegnern der fahrradfreundlichen Investition in der Lokalzeitung lesen und rechne deswegen nicht mehr mit dem Bau des Projektes.
Demokratieverwaltung in der Bachstraße
Seit einigen Wochen fühlt es sich bei der täglichen Lektüre der Ostsee-Zeitung so an, als entwickle man in der Bachstraße einen Hang zum Skandal. Schenkt man den Überschriften Glauben, geht es hier derzeit sehr dramatisch zu. Noch effektiver als die Leserbriefspalten sind die von der Lokalredaktion initiierten Umfragen, denn sie – das wird suggeriert – geben ein Stimmungsbild der öffentlichen Meinung wieder. Die Ergebnisse dieser Umfragen sind problemlos manipulierbar. Ich habe zum Beispiel dreimal meine Stimme abgegeben, als es um die Ablegung des Universitätsnamens ging.
Eckhard Oberdörfer freute sich heute über die Resonanz auf die Umfrage und die rege Teilnahme. Er träumt zwischen den Zeilen von der Partizipation der häufig von Entscheidungen ausgeschlossenen Bürger. Aber wer sind die inzwischen 2426 (Stand: 18 Uhr) Wählerinnen? Und wie können Menschen ohne Internetzugang an einer Online-Umfrage teilnehmen? Die OZ macht’s möglich!
„Einige Leser, die über keinen Internetzugang verfügen, riefen sogar an, weil sie ebenfalls ihre Stimme abgeben wollten. Darunter waren bisher keine Befürworter, was nichts besagen muss. Auch ist die Online-Umfrage natürlich nicht repräsentativ. Aber sie ist ein wichtiges Stimmungsbild.“
Wurde dann an den Redaktionsrechnern die entsprechende Seite aufgerufen und das delegierte Votum übertragen? Ein Demokratiealbtraum, der seinesgleichen sucht. Und auch wenn betont wird, dass die Umfrage nicht repräsentativ sei, an ihrem Charakter als Bürgerentscheid ändert das für mein Befinden nicht viel.
Liskow mobilisiert zur Manipulation der Umfrage
Umso dramatischer sind die mit der Umfrage einhergehenden Probleme. Nicht nur, dass Mehrfachabstimmung ohne Schwierigkeiten oder technische Tricksereien möglich ist (ich selbst habe zum Test heute wieder drei Stimmen in den Topf geworfen), vor allem zeigt das Ergebnis nicht die Verteilung einer bestimmten Einstellung, sondern nur den Mobilisierungsgrad der Gegner und Befürworterinnen. Was das bedeuten kann, soll der folgende Auszug einer internen E-Mail der Jungen Union Greifswald verdeutlichen:
Liebe JU‘ler, in der Ostseezeitung läuft derzeit eine Abstimmung zur Diagonalquerrung [sic!]. Axel Hochschild hat mich gebeten, dass wir uns aktiv an der Abstimmung beteiligen und gegen die Diagonalquerrung [sic!] abstimmen. Eine mehrmalige Abstimmung ist auch möglich.Ablehnungsgründe sind unter anderen [sic!] die Kosten in Höhe von 250.000 Euro, die Verkehrsverschlechterungen für die Autofahrer zu Lasten von einer Zeitersparnis in Höhe von 10 Sekunden für die Radfahrer und das wichtigste Argument, das bisher allen verheimlicht worden ist, es gibt von Seiten des Straßenverkehrsamtes nur eine Ausnahmegenehmigung für drei Jahre, dies heißt, das [sic!] wir in drei Jahren für abermals 250000 Euro die Kreuzung wieder in den Urzustand zurückversetzen müssen. Die Ortsteilvertretung Innenstadt hat der Diagonalquerrung [sic!] schon eine Abfuhr mit 5 zu 2 Stimmen erteilt.
Vor knapp zwei Wochen ist mal wieder ein Zeitungsartikel erschienen, der das besonderliche Moment Greifswalds zu greifen versucht. Dörthe Nath stellte für ihren taz-Beitrag die Landeshauptstadt Schwerin der Hansestadt gegenüber und arbeitete Mentalitätsunterschiede zwischen beiden Orten heraus.
„EIN BISSCHEN LANDSCHULHEIMATMOSPHÄRE“
Auf die alte Mär vom zweimaligen Weinen, die nach wie vor und ungebrochen am Image Greifswalds klebt, konnte die Autorin leider nicht verzichten und auch die Bezeichnung als Deutschlands Fahrradhauptstadt bereitet sicher manch Ortskundigem Bauchschmerzen.
Interessanterweise versucht sie aber, gerade an Dichte und Beschaffenheit der Fahrräder den großen Unterschied zwischen Greifswald und Schwerin deutlich zu machen: klapprige Damenräder in der Studentenstadt versus Lenkertasche mit Kartenfenster im Ausflugsort:
„Schwerin ist langweilig und voller Rentner – Greifswald ist jung und quirlig. In Greifswald tragen die Studenten einen Hauch von Vielfalt und Urbanität in die Stadt, aber auch ein bisschen Landschulheimatmosphäre.
„MEINE KLEINE HOMOHÖLLE“
Neben dem Status als Durchgangsstation wird im Artikel aber auch ein anderes lokales Problem benannt. Um gleich alle Hoffnungen im Keim zu ersticken, es geht dabei nicht um Korruption, sondern um die Schwierigkeiten Homosexueller in Greifswald.
Der zitierte Gleichstellungsbeauftragte des AStA, Björn Reichel, macht auf die – im Wortsinn – unwirtliche Situation Greifswalder Homosexueller aufmerksam: kleine Szene, kaum Homo-Kultur und diesbezüglich fehlende Strukturen.
Mehr als der queere Stammtisch und die zweifelhaften Gender-Trouble-Parties fallen ihm nicht ein, viel mehr gibt es tatsächlich auch nicht, beziehungsweise hat es aufgehört zu existieren, wie zum Beispiel das schwul-lesbische Filmfest queerblick, das von 1996 bis 2005 jährlich stattgefunden hat.
Irgendwann findet auch dieser Artikel sein wohlverdientes Ende und man bleibt mit dem glücklichen Gefühl zurück, nicht in Schwerin leben zu müssen.
In Greifswald wurde, wie allerorten, zum Beispiel im weatherlog, vermeldet wurde, mit über 60cm mittlerer Schneehöhe ein neuer Rekord aufgestellt und der legendäre Winter 1978/79 überboten. Die Folgen des Dauerschneefalls waren natürlich nicht so verheerend wie vor 31 Jahren, sorgen aber auch jetzt noch für helle Aufregung.
Das Wetter wurde durch die zuständigen Winterdienste zum Wetterchaos, auch noch nach sechs Wochen Dauerschnee ist die Greifswalder Straßensituation miserabel. Die öffentliche Kritik wird in Leserbriefen und Online-Kommentaren genauso wie in Ampelgesprächen artikuliert.
Als schließlich mit der Räumung der großen Straßen begonnen wurde, verstummten die Kritiker nicht. Manche Menschen beschweren sich über die Lärmbelastung des nächtlichen Räumens und verfluchen tagsüber dann die miserable Passierbarkeit einiger Straßen.
SCHLECHTER SCHERZ DER HAUSVERWALTUNG?
Über die rücksichtsvoll wie verantwortungsbewusst durchgeführten Arbeiten freute sich ganz bestimmt und kurz vor Fahrtantritt die Besitzerin des auf dem nebenstehendem Bild nicht mehr wirklich erkennbaren Velos. Das Fahrrad ist Opfer einer überengagierten und betriebsblinden Schneeräumung geworden.
Eindrücklicher kann man die Empfehlung, besser zu Fuß zu gehen, wirklich nicht formulieren.
Erst vor wenigen Tagen wies ich auf den Unterhaltungswert von Pressemitteilungen der Polizeidirektion Anklam hin. Heute gibt es neuen Stoff für Heiterkeit und damit meine ich nicht den Greifswalder Hotelgast, der heute früh von zwei Personen in seinem Zimmer überfallen, beraubt und gewürgt wurde, sondern die Mitteilung über einen fliehenden und später gestellten Radfahrer mit einer größeren Menge Haschisch im Rucksack:
Greifswald / Filmreife Flucht nützte nichts – Regie hätte es nicht besser hinbekommen
Eine filmreife Flucht hat Donnerstagabend ein in Greifswald wohnhafter junger Mann hingelegt, als er gegen 18:30 Uhr auf eine stationäre Fahrradkontrolle der Beamten in der Anklamer Straße traf und schleunigst abbog. Ein Regisseur hätte wohl seine ware [sic!] Freude über das gehabt, was dann ablief: Ein Polizist trat ebenfalls in die Pedalen eines Dienstfahrrades und folgte dem Flüchtenden gleich über mehrere Straßen, u. a. die Breitscheid-, Blum- und Stelling Straße. Ein zweiter Kollege des Sachgebietes operative Maßnahmen folgte zu Fuß und übernahm den zweiten Teil, als der Flüchtende über mehrere hundert Meter versuchte, über Hinterhöfe, Hecken und Zäune zu entkommen. Genützt hat es ihm nichts. Schnell wurde klar, warum es der Radfahrer „so eilig“ hatte. In seinem Rucksack fanden sich nicht nur 2 390 Euro Bargeld, sondern auch noch 246 Gramm Haschisch. Sagen wollte er dazu nichts, auch nicht zu der Tatsache, dass sein Rad in Fahndung stand. Die Antworten will der 26Jährige (Migrationshintergrund Russland) einem Anwalt überlassen.Die Polizei hegt hingegen den begründeten Verdacht, dass hier ein Dealer aufgeflogen ist.Bei den durchgeführten Kontrollen am Donnerstag wurden insgesamt fünf Radfahrer festgestellt, deren Räder in Fahndung standen. Ein Radfahrer führte zudem eine geringe Menge an Rauschgift mit.
Die Polizeikontrollen in der Anklamer Straße sorgen für anhaltenden Unmut unter den Legionen Greifswalder Radfahrer.
MODERNE WEGELAGERER PROFITIEREN VON SCHLECHTEN RADWEGEN
Die Beamten werden inzwischen als Wegelagerer betitelt, ihre überflüssigen Kontrollen, die letztendlich von den schlechten Zuständen der Greifswalder Fahrradwege profitieren, werden mit Wegelagerei verglichen. Kein Wunder, sollen die Delinquenten doch satte 15€ Strafe zahlen. Diese offensichtliche Ungerechtigkeit spornt zu zivilem Ungehorsam an und über den Informationsdienst Twitter werden immer öfter Hinweise verbreitet, die sich vor den an Autofahrern adressierten Blitzerwarnungen im Radio nicht verstecken müssen.
Dank der retweet-Funktion können diese Information eine massenhafte und unmittelbare Verbreitung erfahren und etliche vor einem Bußgeld bewahren.
TWITTERN ALS ZIVILER UNGEHORSAM
Hätte der Haschischbesitzer doch bloß die richtigen Twitter-Kontakte gehabt, er würde jetzt ruhiger schlafen können. Exemplarisch seien bei dieser Gelegenheit drei tweets zitiert:
die Wegelagerer (Polizei) steht jetzt an der Europakreutzung Anklamerstr. und zieht wieder Fahrradfahrende Menschen raus