Stadtverwaltung und Ostsee-Zeitung erklären wieder einmal die Welt. In der heutigen Lehrstunde der OZ-Lokalausgabe geht es um Streetart – illegale Graffiti, wie die urbane Kunstform im Verwaltungssprachgebrauch bezeichnet wird.

Die Ostsee-Zeitung zitiert Andrea Reimann, Pressesprecherin der Stadt: „Wir gehen davon aus, dass dieses Gesicht das Symbol von Atomkraftgegnern ist. Das Motto scheint, Greifswald mit einem tränenden Auge zu sein“ (sic!). Sicher, die in den letzten vier Monaten eingetroffenen Castoren sind ein Grund zur Trauer, aber die Wut darüber und der Protest dagegen finden einen anderen, expliziteren Ausdruck – auch in Gestalt von Streetart.
„Qualität statt Penetranz!“
Die traurigen Gesichter werden unter anderem auf dem Flickr-Account der Greifswalder Streetart-Dokumentaristen daklebtwat diskutiert. Eine Nutzerin moniert, dass es schlichtweg zuviele davon gäbe und fordert: „Qualität statt Penetranz!“. In ähnliche Richtung argumentiert auch ein anderer Kommentator, der es unnötig findet, dass auf dem Markt gleich zwei der Gesichter platziert wurden und fragt: „Was soll die Scheiße?“.

Dabei gibt es in Greifswald neben dem Atomlager Lubmin vieles mehr, was Anlass zu Tränen bietet: Sei es das von einer finanziellen Zurechtstutzung bedrohte Theater, die jährlich sinkenden Kulturförderungen, die Sanierungspolitik der Stadt, die an Kriminalität grenzenden Verwicklungen zwischen Verwaltung und Sanierungsträger oder die systematische Ausbeutung von ALG-II-Bezieherinnen durch die ebenfalls im Artikel erwähnte und unter anderem für die Entfernung von Graffiti eingesetzte Gemeinnützige Gesellschaft für Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung mbH (ABS).
Mit ALG-II-Empfängern gegen Graffiti und Anti-Atom-Plakate
Zwangsmitarbeiter dieser Gesellschaft, deren Gemeinnützigkeit gar nicht häufig genug in Frage gestellt werden kann, waren es auch, die im Dezember 2010 durch die Stadt zogen und Plakate, die zur damaligen ersten großen Anti-Atom-Demonstration aufriefen, entfernen mussten. In einem Fall wurden diese Plakate in den Räumen eines Jugendzentrums abgenommen. Die Zwangsmitarbeiter hätten nach eigener Aussage auf Anweisung des Präventionsrats gehandelt, dort wurde diese Darstellung allerdings dementiert.

Inzwischen haben sich sogar Greifswalder Neonazis dazu hinreißen lassen, das Motiv zu übersprühen und in gewohnter technischer Unversiertheit dem traurigen Gesicht ein paar Hakenkreuze verpasst. Wer hätte diesem Motiv so viel Polarisierungspotenzial zugetraut?
(Fotos: daklebtwat, Jan Metschorin)


Für eine große Dosis Ostalgie am Wochenende langt es aber allemal und wer genauer hinschaut, kann auch ein paar interessante Entdeckungen machen. Das beginnt bei der Figur des Nerds, den es offensichtlich schon in den sechziger Jahren gab, und hört beim Frauenbild auf – selbstbewusste junge Mädchen mit Kurzhaarfrisuren, die rauchen, trampen und sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen: „Ich tue, was ich will und was ich will, das tue ich„.

