Das Rätsel um die geheime Greifswalder Band T.C., die gestern mit einem flotten Debütkonzert den polnischen Punkreigen im IKUWO eröffnete, ist gelöst: Das Nebenprojekt aus den Reihen verschiedener Lokalbands des Genres nennt sich Tesla Cessna.
Danach ließen Narkolepsja Reminiszenzen an alte polnische Punkhelden aufblitzen, bis die Dead Yuppies schließlich im moderneren Gewand loswuchteten.
Der zweite Abend des Polenmarktes bringt uns nicht nur hohen Besuch aus dem fernen Warszawa, sondern bietet den hiesigen Dancefloors damit zugleich das wohl explosivste Antriebsmittel des Festivals.
Ethno-Elektro-Dancehall-Eklektizismus
Denn so wenig die vor acht Jahren aus einem orientalesken DJ-Kollektiv entstandene Formation mit indischen Gewürzen zu tun hat, ist die weltgereiste Mischung, die Masala in ihr Publikum peitschen, ausgesuchter und exotischer denn je.
Aller eingesetzten traditionellen Instrumentierung zum Trotz, präsentieren die Warschauer alles andere als polnische Folklore, sondern zitieren die besten Versatzstücke verschiedener Musikkulturen, laden sie mit modernen elektronischen Elementen auf und schaffen so einen Sound, der wirklich global klingt. Hier wird „ein eklektischer Electro-Ethno-Dancehall-Rap-Punk-Style mit politisch aufgeladenen Lyrics“ gepflegt.
„Dröhnende Kehlgesänge aus Tuva treffen auf basslastigen jamaikanischen Dub, indische Tablas fliegen über kickenden Drum’n’Bass-Rhythmen, polnische Tatra-Fideln schmeicheln knackigen Electro-Beats, süße arabeske Melodiebögen werden mit wütend gerotzten MC-Passagen kontrastiert.“
Transkulturell, transnational, transzendent!
Einen Eindruck dieser Symbiose vermag das bollywoodeske Video ihres Songs Od Tarnobrzegu po Bangladesz vermitteln:
Auch im Polen Special von ARTE TRACKS werden Masala ab Minute 5:40 behandelt und erklären sich und ihre Musik. Neben dem Warschauer Soundsystem werden in der Sendung auch andere polnische Bands, die in den letzten Jahren Greifswald beehrten, vorgestellt:
Higher Gain with Boogiebrain!
Wer dann noch nicht müde und verausgabt ist, kann es mit DJ Calvin werden. Der künstlerische Mastermind des Szczeciner Festivals Boogiebrain wird nach dem Konzert wohldosierte Drum’n’Bass- und Dubstep-Salven auf die Tanzfläche feuern und für eine exzessive wie tanzwütige Aftershow-Party sorgen.
Aufgrund der begrenzten räumlichen Kapazitäten und des erwarteteten, hohen Besucherinnenanstroms ist Pünktlichkeit die Schlüsseltugend, um an diesem Rausch teilhaben zu können.
Morgen beginnt der diesjährige Polenmarkt und vor uns liegen sechzehn veranstaltungsreiche und vor allem schlafmangelige Tage und Nächte. Am Eröffnungstag gibt es gleich drei verschiedene Angebote, deren Unterschiedlichkeit die Entscheidung, welches wahrgenommen werden sollte, nicht leichter macht.
Feierliche Eröffnung und polnische Reportagen
Der dreizehnte Polenmarkt wird am frühen Abend feierlich im Krupp-Kolleg eröffnet werden. Dort wird es sicher neben warmen Worten auch eine kurze Vorstellung des Polonicums geben – das zweisemestrige Zusatzstudium wird ab jetzt Einblicke in Sprache und Kultur des östlichen Nachbarlandes bringen.
Anschließend wird der aus Poznań stammende Journalist Włodzimierz Nowak sein für den wichtigsten polnischen Literaturpreis nominiertes Buch Die Nacht von Wildenhagen vorstellen. Darin sind zwischen 1997 und 2006 entstandene Reportagen versammelt, die die Schicksale von zwölf Menschen beider Seiten der deutsch-polnischen Grenze zwischen 1945 und heute betrachten. „Er zeigt dabei, wie schwer es immer noch für Deutsche und Polen ist, mit ihren traumatischen Erinnerungen umzugehen.“
Während der Lesung und dem sich anschließenden Autorengespräch wird eine professionelle Übersetzung angeboten. Danach wird ein Buffet offeriert, das musikalisch von Selecta PEhLE untermalt wird. Man dürfe „polnischen Tango aus den 20er und 30er Jahren sowie Jazz und Beat der 60er und 70er Jahre“ erwarten, verrät das Programmheft.
Im IKUWO wird der Blick nicht auf die Hoch-, sondern die Subkultur gerichtet. Dort sprechen Aktivisten der Anarchistischen Föderation Poznań über die Situation der anarchistischen Bewegung zwischen Fahrraddemos, Suppenküchen, Arbeitskampf und Hausbesetzungen. Außerdem informieren sie über eines der bekanntesten und heiß umkämpften Häuser Polens – das Rozbrat Squat in Poznań.
Nach der sich anschließenden VoKü steht dann Punkrock mit zwei Bands aus Wroclaw und dem Debüt einer Greifswalder Formation auf dem Programm. Die Dead Yuppies werden als beispielhaft für die junge Punk-Generation, die das honorierte Erbe ihrer Vorgänger antritt und mit „Frisch-Wut versorgt“, angekündigt.
2004 aus der Wroclawer Band Balkanskaja Zvezda entstanden, coverten sie zwar anfangs Klassiker wie Misfits, The Clash oder Buzzcocks, das nach und nach entstandene eigene Material jedoch lässt viel mehr polnische Größen der 80er nachvibrieren, Bands wie Dezerter, Karcer oder die frühen Deuter.
Nach Eigenveröffentlichungen in alter DIY-Manier erschien ihre Debüt-LP 2008 beim polnischen Thrashcore- und Crust Punk-Vertrauenslabel Trujaca Fala und entsprechend explosiv schlägt ihr melodiöser Punkrock auch ein. Mal zum Mitsingen, dann zum Durchdrehen, während es inhaltlich mit politischen und sozialkritischen Themen weit übers „Yuppie Bashing“ hinausgeht.
Ebenfalls aus Wroclaw kommt die relativ neue und unter anderem mit zwei 80er-HC-Veteranen besetzte Band Narkolepsja. Davor gibt es das Bühnendebüt der Greifswalder Neuband T.C., die bislang konsequent unter dem Radar schwebte. „Apokalyptischer Punkrock in rauester Offenbarung wird hier versprochen. Ein polnisch-vorpommerscher Pogo-Abend: hey ho, let´s go, go, go, go!“
Über Greifswalder Konzerte in Sachen Punk- und Hardcore informiert übrigens inzwischen regelmäßig der Blog justidiots, ein Linktip also für Freundinnen des Genres. Lastfm-Nutzer finden die Veranstaltung hier.
Fakten: 19.11. | 19/21 Uhr | IKUWO | 4 EUR
Durch-die-Nacht-Jazz im Koeppen
Am späten Abend wird schließlich die letzte Polenmarkt-Veranstaltung des heutigen Abends beginnen. Im Café Koeppen ist mit dem Kołłątaj Jazz Trio um Namensgeber und Drummer Krzysztof Kołłątaj sowie seinen Mitstreitern Krzysztof Ciesielski am Kontrabass und Tasteninstrumentalist Mariusz Smoliński, facetten- und variantenreiches Jazz-Ambiente zu erwarten.
Die Musik des Trios zeichnet sich insbesondere durch ihre Virtuosität des Spiels aus und verzaubert mit einem sanften und gefühlvollen Clubjazz. Neben bekannten Jazzstandards werden eigene Kompositionen präsentiert.
Nach dem offiziellen Konzert ist das Publikum zu einer offenen Jam-Session eingeladen.
Seit nunmehr zwölf Jahren findet in Greifswald der Polenmarkt statt und mit ihm hält wieder eine Fülle von Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Filmvorführungen und Partys in der Stadt Einzug.
Ähnlich dem Nordischen Klang richtet auch dieses Festival seinen Blick auf eine Region, einen Kulturraum, und versucht nach eigener Aussage „eine avangardistische und inspirierende Visitenkarte des Nachbarlandes zu kreieren“.
Wie dieses Anliegen in der Praxis gelingt, darüber gibt das wunderbar illustrierte und liebevoll gestaltete Programmheft Aufschluss, das auch in digitaler Form dargereicht wird.
Die Veranstaltungen sind auf viele Kulturräume der Stadt verteilt und der diesjährige Polenmarkt wird abwechselnd von der Medienwerkstatt, dem Pommerschen Landesmuseum, dem IKUWO, dem Antiquariat Rose, der Tschaika, dem St. Spiritus, dem Fallada- und dem Koeppenhaus beheimatet. Zwei Programmpunkte finden sogar in Stralsund statt. Werbung
Die programmatische Vielfalt reicht dabei vom Pianisten mit Weltruhm, Andrzej Jagodziński, über die Punkbands Dead Yuppies und Narkolepsja aus Wrocław bis zum Electro-Ethno-Dancehall-Kombinat Masala aus Warszawa oder den aus Szubin stammenden Jazz-Freigeistern Contemporary Noise Sextet.
Neben Kulturveranstaltungen im klassischen Sinn wird es aber zum Beispiel auch eine Art Informationsbörse für Interessierte, die an einer polnischen Universität studieren wollen, geben. Und ganz gewiss wird auch dezidiert auf das Polonicum, ein vor kurzem eingerichtetes, zweisemestriges Zusatzstudium, hingewiesen werden.
LÄNGSTER POLENMARKT SEIT BESTEHEN
Daneben werden insgesamt acht Filmvorführungen offeriert, unter anderem der in der Kategorie Bester Dokumentarkurzfilm für den Oscar nominierte Berliner Mauerhasen, der von Kaninchen handelt, die in der unmittelbaren Nähe der Berliner Mauer lebten; Parallelen zur DDR-Bevölkerung werden in der „brilliant geschmiedeten Allegorie“ offenkundig.
Noch nie war ein Polenmarkt so lang – ganze sechzehn (!) Tage wird Greifswald von den vielversprechenden Veranstaltungen beseelt werden, die einen sehr gelungenen Mix aus verschiedenen Regionen und Szenen erwarten lassen und unbedingt als „eine avangardistische und inspirierende Visitenkarte“ Polens funktionieren. Dafür ist dem Team hinter dem Polenmarkt schon vorab ein großes Dankeschön und Respekt für die bis hierher geleistete Arbeit auszusprechen.
Ab Donnerstag wird der Polenmarkt auch auf dem Fleischervorstadt-Blog das Thema schlechthin sein. Hier werden die wichtigsten Veranstaltungen angekündigt und wenn möglich auch dokumentiert. Ab morgen heißt dann also die Devise an den Tresen dieser Stadt Tyskie statt Lübzer oder Becks, in diesem Sinn: Na zdrowie!
King Automatic begeisterte am 30.10. im IKUWO an Schlagzeug, Orgel, Gitarre, Mundharmonika und Gesang zugleich. Eremitisch tingelt der Franzose als einköpfige Reisegesellschaft durch die Lande, um seine ganz eigenen Vorstellungen von Schleifen, Loops und Rock’n’Roll unter die Menschen zu bringen.
Kann noch jemand sagen, wann man das letzte Mal von Rockmusik aus Schweden nicht einfach nur bestens bedient, sondern komplett umgeblasen wurde, überrascht und geschüttelt und verbrannt und neu geboren? Oder anders gefragt: Will mal wieder jemand? (Sinnbus)
Liebhaberinnen extravaganter Gitarrenmusik kommen in Greifswald einfach zu selten auf ihre Kosten und so ist es mir eine große Freude, auf das Konzert der schwedischen Band Alarma Man hinzuweisen.
Intelligente Grobheiten
Das Quintett aus Göteborg machte 2006 mit seinem selbstbetitelten Debütalbum von sich reden. Die damals von ihrem Label „als Haken schlagende Dampfwalze, als Erlöser mit Turboboost, als apokalyptische Lässigkeit“ noch zurückhaltend beschriebene Formation trat mit ihrer musikgewordenen Irrgartenmathematik das Erbe ihrer Landsleute The Refused an – genauso intensiv, nur weitesgehend nonvokal.
Richtig energetisch wird es aber im treibend-drängend-flehenden Bird, das einen partiellen Live-Eindruck der Band zu vermitteln mag. Da fällt man hinten über:
Kopfkino statt Synapsenmassage
Jetzt ist Love Forever draußen und die neuen Stücke sind nicht weniger kompliziert – es wird vertrackt gefrickelt, dämmrig gesungen und die Mathrock-Wurzeln sind nach wie vor erkennbar.
„Alarma Man aus Göteborg scheinen auf ihrem Zweitling fast durchgängig unter Zeitdruck zu stehen. Das Quintett jagt permanent durch seine Songs und tut das mit derartiger Brillianz, dass die Energie schnell auf den Hörer überspringt. Dabei wirken die Stücke keineswegs wüst, sondern außerordentlich geschickt konstruiert: Fast jeder Track auf „Love Forever“ beginnt recht zurückhaltend, schaukelt sich aber schnell zu einer dichten, scheppernden Soundkulisse hoch, um dann in einem instrumentalen Strudel seinen Höhepunkt zu finden.
Mit jedem Stück schraubt sich die Band erneut in höchste Höhen: Taumelnd winden sich Gitarrenriffs umeinander, stürmische Schlagzeug-Rhythmen rasen in- und gegeneinander. Alarma Man verlieren sich gerne in rasanten Post-Rock-Riffs, die einander entgegen arbeiten und dabei doch harmonisch klingen. Viele ihrer Songs wirken wie in Ekstase eingespielt.“ (motor.de)
„Matula, hau‘ mich raus!„
Den Abend werden die Berliner syn*error mit einer Zeitreise in die von Bands wie Fugazi, Hot Water Music oder Engine Down geprägten Post-Punk-HC-Zeiten der späten 1990iger Jahre einläuten. Danach gibt’s eine Indie-Classics-Aftershow-Party mit DJ matula, der neben Superpunk hoffentlich noch mehr tanzdiktatorische Exzessbejahungen im Gepäck haben wird.