Über eine afghanische Flüchtlingsfamilie und ihr Kirchenasyl in Greifswald

Anfang der vergangenen Woche sendete Deutschlandradio ein Feature über die afghanische Familie S., die im vergangenen Winter von der Domgemeinde aufgenommen wurde und vor kurzem ihr „stilles Kirchenasyl“ beendet hat.

FÜR DIE FLUCHT DAS HAUS VERKAUFT UND ALLES HINTER SICH GELASSEN

Die sechsköpfige Familie verließ vor über drei Jahren ihre afghanische Heimat. Sie verkaufte ihr Haus, um die Schlepper zu bezahlen, die sie für 14.ooo Euro von Afghanistan über den Iran in die Türkei und weiter bis nach Griechenland brachten. Von dort flog die Familie nach Norwegen und stellte einen Antrag auf Asyl.

Da der norwegische Staat im Gegensatz zu Deutschland nach Afghanistan abschiebt, waren die Aussichten der Familie auf einen geregelten Aufenthalt schlecht, obwohl die Mutter damals mit ihrem vierten Kind schwanger war. Deswegen verließ die Familie das Land und reiste mit dem Bus nach Deutschland, in der Hoffnung, dort Asyl zu finden.

juergensdorf(Foto: Fleischervorstadt-Blog)

Die Familie S. kam ins Asylbewerberheim im mecklenburgischen Jürgenstorf, bis im Januar die Polizei nachts kam, und sie abholen wollte. Sie sollten nach Norwegen ausgeflogen werden, denn nachdem die Familie dort ihren ersten Asylantrag gestellt hatte, waren die skandinavischen Behörden für ihren Fall zuständig. Das jüngste der vier Kinder war zu diesem Zeitpunkt erst vier Monate alt.

„OFT FINDEN SICH WEGE. MANCHMAL UNGEAHNTE, DIE MAN GAR NICHT GEKANNT HAT“ (PFARRER GÜRTLER)

pfarrer gürtler greifswald domDaraufhin stellte das Diakonische Werk Kontakt zum Dompfarrer Matthias Gürtler her und fragte, ob man bereit wäre, der Familie Kirchenasyl zu gewähren. Der rief binnen Stunden den Gemeindekirchenrat zusammen und einstimmig wurde dafür gestimmt, die Flüchtlinge vor einem erneuten Abschiebungsversuch zu schützen.

Die Behörden wurden von Anfang an über das Kirchenasyl informiert. Für Betroffene dieses Zustands besteht während dieser Zeit kein Anrecht auf staatliche Leistungen. Pfarrer Gürtler erklärt während des Features, dass die Gemeinde für die Flüchtlinge aufkommen muss: „Wir wussten ja auch, wir müssen die Familie auch über Wasser halten. Wir müssen die ernähren, wir müssen die finanzieren. Da kommt einiges auf uns zu.“

In Greifswald gründete sich ein Unterstützerkreis, der sich um Familie S.i kümmerte, finanzielle Dinge regelte und auch ärztliche Unterstützung für die traumatisierte Mutter organisierte — Hilfe, die man normalerweise von staatlichen Institutionen erwarten würde.

(Foto: dom-greifswald.de)

OFFENES VS. STILLES ASYL UND WIE GEHT ES WEITER?

Im Gegensatz zum „offenen Kirchenasyl“, bei dem versucht wird, das Schicksal der Betroffenen öffentlich zu machen und sie durch die mediale Begleitung vor staatlichen Zugriffen zu schützen, wird Öffentlichkeit beim „stillen Kirchenasyl“ vermieden, um Verhandlungen mit den staatlichen Institutionen zu erleichtern und so für mehr Schutz der betroffenen Menschen zu sorgen. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche weiß derzeit von deutschlandweit 19 Kirchenasylen mit mindestens 44 betroffenen Personen, darunter etwa 20 Kinder (Stand September 2012).

Familie S. lebt nach wie vor in den Räumen der Gemeinde. Ende Juni hat Deutschland ihr Asylverfahren übernommen und ist nun für den Antrag zuständig. Wie lange es dauert, bis dieser beschieden ist, bleibt unklar.

pro asyl plakat(Pro Asyl)

Das empfehlenswerte Feature zeigt einen hoffnungsschimmernden Lichtblick der Menschlichkeit und Solidarität in der ansonsten düsteren Asyl- und Abschiebepolitik Deutschlands.

  • Die Not einer Familie (dradio, 22.09.2012)

Fotoausstellung über das Sterben der Greifswalder Altstadt in den Achtzigern

Im Pommerschen Landesmuseum wird morgen eine Ausstellung eröffnet, deren Besuch gerade für diejenigen lohnenswert ist, die sich für die bauliche Vergangenheit Greifswalds interessieren und bereit sind, in die bausubstanzielle Trostlosigkeit der 1980er Jahre einzutauchen.

„Das, was unterging, zumindest zweidimensional zu bewahren“

Heimatkunde zeigt Fotografien des in Greifswald geborenen Architekturfotografen Robert Conrad, der seine Eindrücke der flächendeckenden Gebäudeabrisse in der Hansestadt festhielt: „Es blieb mir nur, das, was dort unterging, mit dem Medium der Fotografie zumindest zweidimensional zu bewahren.“

Seine Fotografien zeigen beispielsweise die nördliche Altstadt, die Fleischervorstadt sowie die Gegenden um die Grimmer Straße und die Wolgaster Straße. Sie sind Zeugnisse einer Ära, die tiefe Wunden in der baulichen Substanz der historischen Greifswalder Altstadt hinterließ.

„Ein Gegenbild schaffen“

Conrad wollte mit seinen trostlosen Bildern „ein Gegenbild zu den gefeierten Neubauten schaffen und die Betrachter für die Vergangenheit und Individualität ihrer Stadt sensibilisieren“. Seine ablehnende Haltung gegenüber der staatlichen Baupolitik verhinderte seine Zulassung zum Wunschstudium Kunstgeschichte und Architektur mit dem Schwerpunkt Baugeschichte, das er erst nach der Wende aufnehmen konnte.

Die Ausstellung zeigt neben Verfall und Abriss auch Spuren Greifswalder Subkultur auf. So sollen neben den Baufotos auch Portraitbilder und Aufnahmen „einer Gruppe junger Greifswalder, deren trotziger Mut Mitte der 80er Jahre durch den großflächigen Zerfall ihrer Stadt katalysiert wurde“  zu sehen sein, die einen „Einblick in die alternative Szene der Bewohner der Abrisshäuser und deren damalige Aktivitäten gegen die Repressionen des DDR-Staates“ versprechen.

Robert Conrad Zerfall und Abriss

Neben den Fotografien wird außerdem der Super-8-Film Greifswald ist alle gezeigt, den Conrad zwischen 1986 und 1989 in Eigenregie drehte.

Kontextsensitives Begleitprogramm

Die Ausstellung wird von einem kurzen historischen Rückblick auf das damalige Zeitgeschehen begleitet, der auf Conrads Fotografien einstimmen soll. Darin wird versucht, die Meinung der staatstreuen Printmedien zum Thema darzustellen und die unterschiedlichen Reaktionen der Bürger Greifswalds in Vergangenheit und Gegenwart zu berücksichtigen.

Hierbei werden neben Pressefotos, Fotoserien, Zeitungs- und Zeitschriftenmaterial auch Modelle und Farbentwürfe für Fassaden zu sehen sein. Fotografien des Greifswalder Bauhistorikers und Altstadtaktivisten Torsten Rütz ergänzen die Ausstellung, die nach ihrer Eröffnung bis zum 31. Januar im Pommerschen Landesmuseum verweilen wird.

In diesem Zusammenhang sei außerdem auf eine Extraveranstaltung am kommenden Mittwoch hingewiesen. Um 12 Uhr wird der Greifswalder Museologe Mario Scarabis im Pommerschen Landesmuseum über den ausgestellten Architekturfotografen unter dem Titel Gegen das Vergessen – Der Fotograf Robert Conrad und die Altstadt von Greifswald in den 1980er Jahren referieren. Der Eintritt kostet 2,50 Euro.

Fakten: 30.09. | 11 Uhr | Pommersches Landesmuseum | frei

*Update*: Die Ausstellung wurde aufgrund des hohen Besucherzuspruchs bis zum 3. März 2013 verlängert.

(Fotos: Robert Conrad, keine CC-Lizenz)

NPD bleibt mit Infoständen in Greifswald auf Pleitekurs

Die NPD versuchte heute Vormittag in Greifswald einmal mehr, mit Infoständen zu punkten und für die rechtsextreme Partei zu werben. Dabei hätten die Neonazis aus der Vergangenheit der letzten Jahre eigentlich wissen müssen, dass sie hierorts mit dieser Aktionsform wenig ausrichten können, denn entweder werden sie von Demonstrierenden umgeben und niedergebrüllt, oder das Wetter ist gegen Nazis. „NPD bleibt mit Infoständen in Greifswald auf Pleitekurs“ weiterlesen

Kurze Wege, lange Nächte – das Greifswalder Wochenende im Überblick #29

Wir leben jeden Tag von vorgestern bis übermorgen / Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde, die wir borgen / Scheint uns sinnvoll, doch genauso ohne Sinn / Verrinnt die Zeit durch unsere Finger / Wir verzagen, haben Angst, dass uns die Welt nicht mehr zu Füßen liegt / Wenn wir nichts wagen, nicht flexibel sind, nicht kooperativ / Und unser Leben ganz in die Hände unserer Arbeit legen / Dabei hatt‘ ich mir doch fest geschworen / Nie mehr vor Mittag aufzustehen /  Nie mehr vor Mittag aufzustehen.

kurze wege lange nächteGreifswald blinzelt noch ein wenig sommerschläfrig und entsprechend mager fällt das kulturelle Angebot in der großen Pause fernab von Kulturnächten und anderen Großveranstaltungen aus. Wer trotzdem ausgeht, findet vielleicht auf einer der Veranstaltungen in der Kulturbar, im Koeppenhaus, im Keller des Café Caspar oder schließlich im Pariser ein ansteuernswertes Ziel. Eine Übersicht. „Kurze Wege, lange Nächte – das Greifswalder Wochenende im Überblick #29“ weiterlesen

„Hallo Wolgast. Das tut einfach nur weh“

Das große Gedenken um das zwanzigjährige Jubiläum der Pogrome von Rostock Lichtenhagen ist noch nicht mal vier Wochen her, doch von einer Sensibilisierung staatlicher Institutionen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlingen und deren Sicherheitsbedürfnissen ist wenig zu spüren.

„IN WAS FÜR EINEM LAND LEBEN WIR EIGENTLICH?“ (EXTRA 3) 

Eine gestern ausgestrahlte Dokumentation des NDR erregte heute in unterschiedlichen sozialen Netzwerken heftige Reaktionen: Nutzerkommentare wie „Willkommen in Dunkeldeutschland“ oder „ich kotze!“ waren dort gleich mehrfach unter den Verlinkungen des NDR-Beitrags zu lesen, der seine Zuschauer ins vorpommersche Wolgast zu einem Wohnblock führt, in dem seit August 2012 Flüchtlinge untergebracht werden. Die Nachbarschaft fühlt sich provoziert, nicht zuletzt deswegen, weil einige der Anwohner vorher in diesem Block lebten und wegen der Einrichtung der vorübergehenden Unterkunft umziehen mussten.

rassistische parole wolgast

(Bild: Filmstill)

Aus der Antipathie gegenüber den Flüchtlingen wird kein Hehl gemacht. Eine Anwohnerin begrüßt die rechtsextreme Parole „heute sind wir tolerant … morgen fremd im eigen [sic!] land!!!“, die nachts an das Flüchtlingsheim gesprüht wurde. Ihr ist egal, ob die Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern verfolgt werden und sie pflichtet bei, dass die betroffenen Menschen hier auch verfolgt werden würden. So klingt eine sehr reale Drohung.

RASSISMUS IM RAHMEN DES NORMALEN

Die rassistischen Ressentiments werden durch Gerüchte befeuert, dass den Insassen eine luxuriöse Heimstätte geschaffen worden sei. Es wurde bereits eine Fensterscheibe eingeworfen und auch ein Anwohner ist sich sicher, dass dort auf jeden Fall „etwas passieren“ würde. Die Menschen im Flüchtlingsheim seien „leichte Beute“ — für wen, das führt er nicht aus, aber der rassistischen Mob, der vor gut zwanzig Jahren zum Beispiel in Hoyerswerda oder Rostock Lichtenhagen wütete, ist schnell vor Augen.

Der Wolgaster Bürgermeister wirkt machtlos, der Leiter des Sozialamts Vorpommern Greifswald, Gerd Hamm, ordnet die Vorfälle als im „Rahmen des Normalen“ ein und macht sich verdächtig, das Unübersehbare zu verharmlosen. In was für einem Land leben wir eigentlich?

  • Hetze gegen Flüchtlingsheim (NDR, 18.09.12)

Internetrevolution beim Greifswalder „Dokumentationskollektiv urbaner Kunst“

Da sich heute die zweite Internetrevolution dieser Woche ereignete, eine kleine Randnotiz in Sachen Greifswalder Streetart: Das örtliche Dokumentationskollektiv Daklebtwat, dessen Fundstücke hier seit langem den Fuß der Navigationsleiste am rechten Seitenrand zieren und bereichern, ist ab jetzt auch auf facebook unterwegs und unterhält dort von nun an eine eigene Präsenz.

cdu streetart

 (Abbildung: Arvid & Felix)

Dort geht es etwas interaktiver zu als bei Flickr. Es werden beispielsweise Kochrezepte diskutiert, die seit mehreren Wochen an öffentlichen Plätzen in Greifswald geklebt werden, und das Publikum kann auch selbst mal an der Kaffeemühle stehen und eigene Fotos publizieren. Wer hierorts Streetart fotografiert hat, kann diese dem Dokumentationskollektiv aber auch klassisch per E-Mail schicken. Entsprechende Zusendungen sind an daklebtwas [at] rocketmail.com zu adressieren.

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