In der vergangenen Woche demonstrierten Asylgegner und Neonazis in mehreren Städten Mecklenburg-Vorpommerns. Über Facebook wird für den heutigen Montagabend zur nächsten wutbürgerlichen Demonstration in Greifswald mobilisiert.
„Greifswald wehrt sich“ heißt die Facebookseite, die seit kurzem versucht, die wutbürgerliche Szene der Hanse- und Universitätsstadt für sich zu gewinnen. Nachdem bereits in der vergangenen Woche ein unangemeldeter Demonstrationszug aus mehr als einhundert — zum großen Teil zugereister — Asylgegner, Rassisten und Neonazis unter dem Motto „Wir sind das Volk!“ durch die Greifswalder Innenstadt marschierte, wird sich das unheilvolle Spektakel in dieser Woche offenbar wiederholen.
(Online-Flyer Greifswald wehrt sich)
Für heute Abend wird auf der genannten Facebook-Seite für eine Versammlung unter der Losung „Gegen Atomwaffen auf DEUTSCHEN BODEN!“ [sic!] mobilisiert. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Wer sich angesichts dieser Ankündigung um den guten Ruf der Stadt sorgt und den kruden Zusammenschluss nicht unwidersprochen durch die Stadt spazieren lassen will, kann sich einer bereits angemeldeten Gegendemonstration anschließen, die sich ebenfalls um 19 Uhr auf dem Greifswalder Marktplatz versammelt. Während sich die rechte Versammlung vor dem Alten Fritz versammelt, ist die Gegenveranstaltung vor dem Rathaus angemeldet. Say it loud and say it clear: Refugees are welcome here!
Angela Marquardt wuchs in Greifswald auf, zog 1998 in den Bundestag ein und wurde als „PDS-Punkerin“ von den Medien hofiert. Vier Jahre später wurde der Fund ihrer Stasi-Akte publik; die frühere Hausbesetzerin wurde von ihrer Vergangenheit eingeholt. Im Frühjahr 2015 veröffentlichte Marquardt, die als Fünfzehnjährige von der Stasi angeworben wurde, ihre Lebensgeschichte und gewährt damit dramatische Einblicke in ihre Kindheit und Jugend. Vor ihrer Buchpräsentation im Koeppenhaus ergab sich die Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch über die wilden Neunzigerjahre, rechtsextreme Kontinuitäten, ihr Verhältnis zur Linkspartei, über Scham und Vergebung und schließlich über die Zukunft der Jahn-Behörde.
FLV: Angela Marquardt, du hast dich nach der Wende in der Greifswalder Hausbesetzerszene herumgetrieben. Wie hat sich die Stadt damals angefühlt?
AM: Das ist etwas schwierig zu sagen, weil diese Zeit so schnelllebig gewesen ist, dass man aufpassen muss, dass die Erinnerungen stimmen. Man ist unglaublich vielen Leuten begegnet, hat wahnsinnig viele Sachen gemacht. Ich erinnere mich, dass wir während der Neunzigerjahre nachts nach Hamburg gefahren sind und irgendwelche Polaroidkameras gekauft haben, die wir dann auf dem Greifswalder Markt vertickt haben, um davon wiederum Toastbrot oder das eine oder andere Bier zu kaufen. Ganz genau im Kopf habe ich noch das Klex, um das wir sehr lange gekämpft haben. Mich als Hausbesetzerin zu bezeichnen, wäre aber glaube ich ein Stück vermessen — da gab es andere, die dort auch wirklich gelebt haben. Ich hatte immer parallel die eigene Wohnung und habe natürlich nicht die ganze Zeit mit den Leuten abgehangen, aber war in der Wachsmannstraße und auch in der Anklamer Straße mit dabei. Dort besetzten die Nazis auch ein Haus.
Damals stand sehr viel Gewalt im Raum. Ich habe im Kopf, dass wir damals noch moderierte Gespräche zwischen Rechten und Linken führten. Da waren Maik Spiegelmacher und Frank Klawitter dabei, jemand aus unserer Gruppe und ich. Diese Auseinandersetzungen zwischen rechts und links waren damals in den beiden Zeitungen immer Thema. Parallel dazu kam dann das, was mein Leben grundlegend veränderte: Dass ich die Leute von der PDS kennengelernt habe und dort ein Stück weit das fand, was ich damals suchte. Nur den Nazis hinterherzulaufen, das ist nicht unbedingt mein Lebensinhalt gewesen; ich meine, ich bin klein und eine Frau.
FLV: Du bist Judoka!
AM: Ja, aber das waren auch schmerzhafte Begegnungen. Ich habe dann jedenfalls angefangen, mich in der PDS zu engagieren. Mein dortiges Engagement endete dann ja in einem relativ rasanten innerparteilichen Aufstieg, und dadurch bedingt, habe ich dann Greifswald ein bisschen hinter mir gelassen. Wobei diese Formulierung eigentlich falsch ist, weil ich ja immer hier gewesen bin. Ich musste lachen, als das Koeppenhaus mir ein Hotelzimmer angeboten hat – das brauche ich glücklicherweise nicht, weil ich noch ganz viele Freunde hier habe.
„Das ist kein neues Phänomen, sondern das gab es immer, und jetzt traut es sich einfach, lauter zu schreien.“
FLV: Mit der Wende kulminierten plötzlich die Möglichkeiten, die Freiheitsgrade erweiterten sich. Viele Protagonisten von damals schildern diese Umbruchszeit – mitunter etwas romantisierend – als sehr aufregend; vor allem die Unbestimmtheit, was ging und was nicht.„Im Gespräch mit Angela Marquardt“ weiterlesen →
Nach dem unangemeldeten rechten Aufmarsch am Montagabend demonstrierten heute Nachmittag etwa 450 Personen in der Greifswalder Innenstadt gegen Fremdenhass.
Ein starkes Zeichen, ein unüberhörbarer Appell, ein deutliches Signal — die Formulierungen, mit denen Demonstrationen wie heute Nachmittag bewertet werden können, sind altbekannt, doch sie treffen manchmal auch den Kern des Gemeinten. In Reaktion auf den rassistischen Aufmarsch des Vortags, hatte die Initiative Uni ohne Nazis unter dem Motto „Gegen fremdenfeindliche Hetze und rassistische Gewalt – für ein weltoffenes Greifswald“ eine Demonstration angemeldet. Der Zuspruch sollte enorm sein!
Seit gestern gehen nun auch in Greifswald besorgte Bürger auf die Straße, um ihrem Unmut über die Flüchtlingspolitik und den Kurs der Regierung Luft zu machen. Eine unangemeldete Demonstration wäre am Montagabend beinahe eskaliert, während sich die Polizei skandalös zurückhielt.
„Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!“ — das kennt man aus den Internetvideos von Freital, Dresden bis Heidenau, doch als diese Parole als erste Verlautbarung einer diffusen Gruppe aus Asylgegnern und Neonazis über den Greifswalder Marktplatz schallte, hatte das eine furchterregende Aura. Bislang blieb die Universitätsstadt von den pegiden Demonstrationen, wie sie zum Beispiel in Stralsund, Rostock und Schwerin stattfanden, verschont, doch das hat sich nun vielleicht geändert.
Alarm im Sperrbezirk: „Wer Deutschland nicht liebt!“
Gegen 19 Uhr versammelte sich am Montagabend eine etwa 150 Personen starke Gruppe, um unter der Parole „Wir sind das Volk!“ einen unangemeldeten Protest durchzuführen. Wozu der Leitspruch der sanften DDR-Revolution konkret zweckentfremdet wird, war dem digital verbreiteten Mobilisierungsflyer nicht zu entnehmen. Dunkeldeutsche Beklemmungen löste er trotzdem aus — zu Recht, wie sich alsbald auf dem Markt zeigen sollte.
Die Fußmatte, über die der im Mai mit hauchdünner Mehrheit gewählte Oberbürgermeister Stefan Fassbinder auf seinem Weg ins Amt stolperte, bleibt medial beliebt. Inzwischen widmeten sich auch die ersten realsatirischen Fernsehbeiträge diesem Thema.
Das Satiremagazin extra3, das bereits über den Greifswalder Superpoller vor der Wiecker Brücke und die Ampel in der Stralsunder Straße an der stark frequentierten Bahnstrecke am Hafen berichtete, legte unlängst nach und präsentierte ein Video über jene Fußmatte, die bislang nicht nur die Bürgerschaft und einen Wahlprüfungsausschuss auf den Plan rief, sondern möglicherweise auch noch ein Verwaltungsgericht beschäftigen wird.
Auch der ZDF-Länderspiegel wuppte die „fiese Fußmatte“ ins Programm und stellte sie in einem kurzen Beitrag als „Hammer der Woche“ vor. Tröstende Worte gab es dabei unter anderem vom Greifswalder Musiker Thomas Putensen: „Wenn man auch mal verliert, dann kann man auch mal nach 25 Jahren sagen: „Ok, es war eine schöne Zeit, wollen wir die anderen mal machen lassen.““
Im Rahmen seiner Reportage-Reihe Kulturlandschaften stattete Wladimir Kaminer Mecklenburg-Vorpommern einen Besuch ab und traf dabei unter anderem die Band Feine Sahne Fischfilet sowie die beiden Greifswalder Künstler Edvardas Racevicius und Heiko Krause.
Fünf Teile zählt die Reportage-Reihe Kulturlandschaften, für die der aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Autor (Russendisko) nicht nur den Schwarzwald, die Eifel, das Saarland oder Wuppertal besuchte, sondern auch eine tiefgründige Reise nach Mecklenburg-Vorpommern unternahm.
Wladimir Kaminer mit dem in Greifswald lebenden Edvardas Racevicius (Filmstill)