Ein Gastbeitrag von Vincent Stoa
Als ich Ende November letzten Jahres die Berichte über die polizeiliche Ermittlung zum Großbrand in der Alten Chemie las, fühlte ich mich seltsam beklommen – als wären Fremde für eine Hausdurchsuchung in meine Wohnung eingedrungen, als hätten sie meine Habseligkeiten durchgekramt, zerwühlt, besudelt. Nachdem das Institut über ein Jahr lang schon fast ein Zuhause für mich war, fühlte ich mich plötzlich obdachlos.
Kontaminierte Traumfetzen
Wir lernten uns vor ziemlich genau zwei Jahren an einem verlotterten Tag in den Semesterferien kennen. Sie war seit drei Jahren, als sie von der kleinen Glasbläserei im Erdgeschoss verlassen wurde, Single. Vom Alleinsein gekennzeichnet: Verwahrlost, staubig, und ziemlich übel riechend.
Zusammen mit einem Freund nahm ich mich ihrer an: Mit Taschenlampe und Klemmbrett bewaffnet, streiften wir durch die gut zweihundert Zimmer (vorwiegend Labore und Büroräume, zu großen Teilen immer noch möbliert), lüfteten, wo es nötig war, und kartografierten das riesige, labyrinthhafte Gebäude Flügel für Flügel, Etage für Etage. Mein kleiner toter Garten. Reagenzgläser, Lehrposter, eingelegte Tiere. Wir fuhren beim leisesten Knacken zusammen, erschreckten uns ständig vor dem Geräusch unserer eigenen Schritte. Noch heute spielt die Hälfte meiner Träume in den Gemäuern der alten Chemie.
Für uns war es nicht nur einfach ein leerstehendes Unigebäude: Es war eine überdachte Geisterstadt, ein mehrstöckiges Kuriositätenkabinett, ein kafkaesker Albtraum. Hier hätten ohne Weiteres der eine oder andere David-Lynch-Film oder auch Fight Club gedreht werden können.
Anders als die Uni behauptete, war das Gebäude übrigens (zumindest anfangs) keineswegs vom Stromnetz genommen. Die Steckdosen funktionierten ausnahmslos, im Institutsfahrstuhl brannte gar rund um die Uhr das Licht. Sogar fließend Wasser gab es, in dem Villenflügel des Gebäudes gar ein komplett eingerichtetes Schlafzimmer: Das Institut wäre als Wohnung durchaus geeignet gewesen – vorausgesetzt, man hätte sich mit der bedrückenden, morbiden Atmosphäre arrangieren können.
Picknick im Zenit der Postmoderne
Viele Monate lang war das Institut unser Ein und Alles. Wir nahmen nichts mit, wir beschädigten nichts, aber wir gestalteten unser neues Zuhause nach Herzenslust. Aus den vielen herrenlosen Schrankwänden bauten wir ein Labyrinth. Wir richteten ein gemütliches Wohnzimmer ein, bastelten absurde Skulpturen aus altem Laborzubehör, stöberten in den immensen Beständen an Büchern, biologischen Modellen und eingelegten Tieren. Wir machten Fotos und gaben Freunden Führungen. Zu Ostern nutzten wir die riesigen Laborräume als Versteck für Osternester.
Im Dezember 2009, fast ein Jahr vor dem Brand, luden wir zu einem vorweihnachtlichen Picknick in das inzwischen bitterkalte Institut ein. Forellenfriedhof überlaut nannten wir den Abend, in Anlehnung an ein dadaistisches Gedicht. Ein vornehm gekleideter Herr mit Zylinder fragte die Gäste nach dem Passwort – Fidelio – und geleitete sie sodann in den festlich geschmückten Salon. Ein mitgebrachter Backgrill sorgte für ein Minimum an Wärme. Man trank Wein, las sich gegenseitig Gedichte vor, spielte Gitarre, tanzte, aß, irrte durch das Labyrinth. „Die Alte Chemie: Ein Nachruf“ weiterlesen