Das Verwaltungsgericht Schwerin hat heute entschieden, dass das Landesinnenministerium den Verfassungsschutzbericht 2011 vorerst nicht mehr verbreiten oder der Öffentlichkeit zugänglich machen darf.
AUCH INTERNATIONALES KULTUR- UND WOHNPROJEKT IM FOKUS DER VERFASSUNGSSCHÜTZER
Es hat sehr viel länger als üblich gedauert, bis die Schweriner Behörde im Oktober des vergangenen Jahres den Verfassungsschutzbericht 2011 veröffentlichte, doch gelohnt hat sich das Warten nicht. Dabei hätte das rechte Terrornetzwerk Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), das unter anderem für die Ermordung von Mehmet Turgut in Rostock sowie zwei Banküberfälle in Stralsund verantwortlich war, Anlass genug für eine innerbehördliche Aufarbeitung gegeben.
Innenminister Lorenz Caffier (CDU) räumt im Vorwort des Berichts ein, dass die Frage, wie es dem NSU möglich war, diese Taten zu begehen, ohne in den Fokus der Ermittlungsbehörden zu geraten, “die Arbeitsweise und Zusammenarbeit der betroffenen Behörden ganz grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt” habe. Dennoch, so Caffier, dürfe diese Frage „nicht den Blick auf die alltäglichen Herausforderungen durch den politischen Extremismus im Lande verstellen.“
Entsprechend dürftig fielen die im Verfassungsschutzbericht zu Papier gebrachten Erkenntnisse über den NSU aus. Stattdessen gerieten linksalternative Projekte ins Visier der Ermittler. Neben der Politband Feine Sahne Fischfilet — der im Bericht mehr Text als dem NSU zugestanden wurde — tauchten in der Publikation des Innenministeriums auch die beiden Rostocker Projekte Cafe Median und das Peter-Weiss-Haus sowie das Greifswalder IKUWO auf. Die drei linksalternativen Hausprojekte wehrten sich daraufhin mit juristischen Mitteln gegen die Stigmatisierung als Feinde der Verfassung — mit Erfolg, wie sich zeigte!
Heute entschied das Verwaltungsgericht Schwerin gegen das Innenministerium und untersagte der Behörde einstweilig die Verbreitung des Verfassungsschutzberichts in digitaler und schriftlicher Form, soweit darin das IKUWO beziehungsweise die anderen beiden Projekte erwähnt werden.
ERWÄHNUNG IST MIT NEGATIVER STIGMATISIERUNG VERBUNDEN
Das Internationale Kultur- und Wohnprojekt aus Greifswald (IKUWO) tauchte in diesem Bericht zweimal auf. Anlass hierfür war einerseits eine Vortragsveranstaltung mit Aktivisten aus Belarus, die über die anarchistische Bewegung in ihrem Land sprachen und die Anwesenden über die aktuelle politische Situation und die massiven staatlichen Repressionen im Lukaschenko-Regime aufklärten, mit denen politische Aktivisten konfrontiert werden.
Im Verfassungsschutzbericht wird weiterhin über die Gruppe Antifaschistische Aktion Greifswald (AAG) geschrieben, die „maßgeblich an der Bildung des Bündnisses ‚Greifswald nazifrei‘ beteiligt“ gewesen sein soll und die Räumlichkeiten des IKUWO nutzen würde. Die Verfassungsfeindlichkeit dieser Gruppe wurde bislang zwar nicht nachgewiesen, die Stigmatisierung als ’staatsfeindlich‘ funktioniert dennoch — und wird auch unweigerlich auf Projekte und Zusammenschlüsse übertragen, die zusammen mit ihr erwähnt werden.
Das Schweriner Verwaltungsgericht bewertete die Erwähnung des IKUWO im Verfassungsschutzbericht 2011 als Grundrechtseingriff, der geeignet ist, “sich abträglich auf das Bild des Antragstellers in der Öffentlichkeit auszuwirken”. Zudem wurde festgestellt, dass mit der in Aufmerksamkeit erweckender Weise hervorgehobenen Nennung des Kulturprojekts „eine negative Stigmatisierungswirkung verbunden ist.“
Wie schwer in diesem Zusammenhang ein Eintrag im Verfassungsschutzbericht wiegt, bekam vor einigen Jahren die Greifswalder Ortsgruppe der Roten Hilfe zu spüren. Gegen die linke Rechtshilfeorganisation wurde damals eine regelrechte Kampagne losgetreten, in deren Rahmen Veranstaltungsorte wie zum Beispiel das Klex spürbar unter Druck gesetzt wurden, um die Nutzung und Vermietung von Räumen oder Postfächern durch die Rote Hilfe zu unterbinden. All das geschah mit Verweis auf die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht, den die wenigsten Stimmungsmacher von damals überhaupt gelesen haben dürften.
VERFASSUNGSSCHUTZ SOLL PRIORITÄTEN ÜBERDENKEN!
Nach dem Behördenversagen in Zusammenhang mit den NSU-Morden und der geschredderten Aufarbeitung staatlicher Unterstützung rechtsterroristischer Strukturen sollten die jährlichen Berichte der Verfassungsschutzbehörden eigentlich nur noch eine untergeordnete Rolle spielen und mit Skepsis betrachtet werden. Das Schweriner Verwaltungsgericht hat heute dazu eine klare Position eingenommen.
Der Berliner Rechtsanwalt Peer Stolle, der alle drei Hausprojekte anwaltlich vertrat, erklärte heute zum Urteil: „Die Entscheidung verdeutlicht, dass auch der Verfassungsschutz in seiner Arbeit an Recht und Gesetz gebunden ist. Der Möglichkeit, die wertvolle und unverzichtbare zivilgesellschaftliche Arbeit von Jugendprojekten in M-V zu diskreditieren, wurde jetzt ein Riegel vorgeschoben.“ Auch die rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Barbara Borchardt, begrüßt das Urteil: „Aus meiner Sicht ist dies ein Erfolg für zivilgesellschaftliches Engagement in MV.“ Innenministerium und Verfassungsschutzbehörde seien aufgefordert, „künftig von derart rechtswidrigem Verhalten Abstand zu nehmen und gegebenenfalls ihre Prioritätensetzung zu überdenken.
- Pressemitteilung Verwaltungsgericht Schwerin (24.01.13)
- Verwaltungsgericht weist Innenministerium in seine Schranken (Pressemitteilung Linke MV, 24.01.13)
- Verfassungsschutzbericht 2011 ist rechtswidrig (Publikative, 24.01.13)